Die These, mit der ich damals die Phänomene des Waldheim-Wahlkampfs zu fassen versuchte, scheint mir keineswegs veraltet zu sein. Eine diffuse Angst, die in Zeiten globaler Umbrüche gewiss ihren berechtigten Platz hat, wird in Kanäle gelenkt, hinter denen die Aussicht auf neue messianische Rachegötter steht, die eine neue Ordnung herstellen werden. Den Anhängern soll suggeriert werden, dass sie im Umfeld einer feindseligen Parteien- und Medienlandschaft verraten, verkauft und verfolgt werden, worauf es nur eine sinnvolle Reaktion gibt, nämlich sich wehrhaft hinter ihren Führern zusammenzuschließen.
Die These, mit der ich damals die Phänomene des Waldheim-Wahlkampfs zu fassen versuchte, scheint mir keineswegs veraltet zu sein. Eine diffuse Angst, die in Zeiten globaler Umbrüche gewiss ihren berechtigten Platz hat, wird in Kanäle gelenkt, hinter denen die Aussicht auf neue messianische Rachegötter steht, die eine neue Ordnung herstellen werden. Den Anhängern soll suggeriert werden, dass sie im Umfeld einer feindseligen Parteien- und Medienlandschaft verraten, verkauft und verfolgt werden, worauf es nur eine sinnvolle Reaktion gibt, nämlich sich wehrhaft hinter ihren Führern zusammenzuschließen.
Mein Essay Politik der Gefühle erschien 1987, etwa ein halbes Jahr nach der Wahl von Kurt Waldheim zum österreichischen Bundespräsidenten. Österreich war ein tief gespaltenes Land. Der Bruch ging quer durch die Familien. Mein Schwiegervater, der nach meinen ersten Publikationen so etwas wie Stolz auf seinen Schwiegersohn entwickelt hatte, fand sich durch mein Buch in seinem Selbstverständnis in Frage gestellt. Er war als Neunzehnjähriger vom Kanonier zum Geschützführer aufgestiegen und kurz nach dem Ende des Krieges in seinem Heimatdorf von einem russischen Besatzungssoldaten angeschossen und lebensgefährlich verletzt worden. Mit viel Glück hatte er überlebt. Nun stand er einem ehemaligen Zivildiener gegenüber, der Waldheims Aussage, er habe, wie Hunderttausende andere Österreicher auch, in der Deutschen Wehrmacht nur seine Pflicht erfüllt, in Frage stellte, obwohl er selbst keine Ahnung hatte, was es hieß, im nationalsozialistischen Staat ins Feld zu ziehen und dabei sein Leben zu riskieren.
Die Waldheim-Kampagne war der letzte Abschnitt der österreichischen Nachkriegsgeschichte, in dem es noch einmal gelang, den Mythos der Soldatengeneration hochzuhalten, demzufolge der Dienst in der Deutschen Wehrmacht mit den nationalsozialistischen Verbrechen nichts zu tun hatte. Die Waldheim-Kampagne mobilisierte die österreichische Wehrmachtsgeneration zu ihrer letzten Schlacht, die vergleichsweise harmlos war, weil sie in der Wahlurne stattfand. Mit der Regierung von Franz Vranitzky, die nach der Wahlniederlage des SPÖ-Kandidaten Kurt Steyrer und dem Rücktritt von Bundeskanzler Fred Sinowatz folgte, war es mit der umfassenden Opferrolle der Österreicher zugunsten einer historischen Differenzierung vorbei.
Die ÖVP hatte auf die internationale Kritik an ihrem Kandidaten Kurt Waldheim mit zwei Plakatserien geantwortet. Auf der ersten stand: „Jetzt erst recht“. Und auf der anderen: „Wir Österreicher wählen, wen wir wollen.“ Es war die Funktion dieser Plakatserien gewesen, die von den „ehrlosen Gesellen“ der österreichischen Linke bestellte Kritik aus dem Ausland nicht nur einfach zurückzuweisen, sondern sie zu nutzen, um patriotische Gefühle zu mobilisieren. Und das hatte letztlich gut funktioniert. Die Strategen von Waldheims Kampagne waren schließlich keine Dilettanten, es war die amerikanische Werbeagentur Young & Rubicam.
Eine meiner ersten Lesungen aus dem Buch „Politik der Gefühle“ fand in Vitis statt, einem kleinen Marktflecken im Waldviertel, nur dreißig Kilometer von dem Dorf entfernt, in dem ich aufgewachsen bin. Die Veranstaltung wurde von Karl Bruckschwaiger organisiert, meinem damaligen Zahnarzt, der für diesen Zweck das Extrazimmer eines Gasthauses reservieren ließ. Die Diskussion nach der Lesung steigerte sich im Publikum zu tumultartigen Schreiduellen, bis es danach aussah, als würde gleich eine Saalschlacht ausbrechen, was den mit der Situation überforderten Zahnarzt dazu bewog, die Veranstaltung für beendet zu erklären. Der Zahnarzt Karl Bruckschwaiger, ich und ein kleines Häuflein neu gewonnener Freunde übersiedelten in ein anderes Gasthaus.
Unter den neu gewonnenen Freunden hatten sich bei der heftigen Debatte besonders zwei Frauen hervorgetan, die aus der benachbarten Stadt Gmünd angereist waren. Sie arbeiteten, wie sie mir im Ausweichgasthaus erzählten, für eine Oral-History-Studie des Instituts für Zeitgeschichte. Ihre Aufgabe bestand darin, im Waldviertel ältere Menschen zu befragen, wie sie die Zeit des Nationalsozialismus erlebt hatten. Dabei stellte sich heraus, dass die ehemaligen Nazis und ihre Sympathisanten wie vom Erdboden verschluckt waren. Niemand wollte Nationalsozialist oder Sympathisant gewesen sein.
Mit einer Ausnahme. Die Historikerinnen hatten ausgerechnet an diesem Tag in Gmünd den Glücksfund eines Menschen gemacht, der freimütig zugab, SA-Mitglied gewesen zu sein. Aber im Grunde seines Herzens, so beteuerte der Mann, habe er die Nationalsozialisten abgelehnt und gegen sie Widerstand geleistet. Die Historikerinnen baten ihn, ein Beispiel zu nennen, an dem sich seine Widerstandshaltung dokumentieren ließe. Ja, das kann ich Ihnen gerne sagen, antwortete er und erzählte folgende Geschichte.
Er sei als SA-Mann eingeteilt gewesen, ein jüdisches Geschäft zu bewachen, damit dort, wie er sich ausdrückte, keine Arier einkaufen. Da sei eine alte Frau gekommen und wollte das Geschäft betreten. Er habe sie darauf aufmerksam gemacht, dass dies ein jüdisches Geschäft sei, in dem sie nicht einkaufen sollte. Die Frau beteuerte, dass sie kein Geld mehr habe und dies sei das einzige Geschäft, bei dem sie den Rechnungsbetrag anschreiben lassen könne, um ihn später zu begleichen. Und dann, so die beiden Historikerinnen, habe der Mann seine Widerstandshandlung benannt: Er habe der alten Frau Geld gegeben, damit sie anderswo einkaufen könne.
Das alles liegt bald 40 Jahre zurück und ist im Grunde genommen nicht viel mehr als ein Stück skurriler Regionalgeschichte. Doch die These, mit der ich damals die Phänomene des Waldheim-Wahlkampfs zu fassen versuchte, scheint mir keineswegs veraltet zu sein. Das politische Werben mit den Mitteln der Warenästhetik ist mehr oder weniger Standard geworden und hat sich in den Aktivitäten eines neuen Rechtspopulismus in verhängnisvoller Weise zugespitzt. Denn die „Politik der Gefühle“ ist längst nicht mehr auf die dramaturgisch ausgefeilten emotionalen Inszenierungen von Wahlkampfauftritten beschränkt, sondern sie hat in den Echokammern der sozialen Medien ihr neues Zuhause gefunden. Die rechtspopulistischen Parteien nutzen die Neuen Medien als eine Art emotionalen Dauerbrandofen, in dem das Interesse am Zeitgeschehen in ein gleichsam masochistisches Suchtverhalten überführt wird. Tag für Tag können die Teilnehmer miterleben, wie ihre Souveränität von der eigenen Regierung im Verbund mit der Europäischen Union mit Füßen getreten wird. Eine diffuse Angst, die in Zeiten globaler Umbrüche gewiss ihren berechtigten Platz hat, wird in Kanäle gelenkt, hinter denen die Aussicht auf neue messianische Rachegötter steht, die eine neue Ordnung herstellen werden. Vor lauter Umzingelung durch kulturfremde Immigrantenmassen, vor lauter Wut gegen eine Politik, die bedrohten Völkern Hilfe anbietet und den Zuwanderern vermeintlich größere Beachtung und Unterstützung gewährt als der angestammten Bevölkerung, vor lauter Ressentiments gegen Klimaschützer, die die eingebürgerte Lebensweise und das eigene Konsumverhalten in Frage stellen, vor lauter Denunziation von Menschen, die ihre nichtbinäre Sinnlichkeit zur Schau stellen, verlieren sie die mühsam genug errichteten Spielregeln und Grundsätze des demokratischen Gemeinwesens aus dem Auge. Der Blick auf Gesellschaft und Staat wird überlagert von der alltäglichen Empörung. Die Teilnehmer an diesen medialen Inszenierungen werden auf eine neue Sicht der Wirklichkeit eingeschworen, die einen nüchternen Blick auf die republikanische Verfasstheit des Staates nicht mehr zulässt. Das Recht hat der Politik zu folgen und nicht umgekehrt, so hat es Herbert Kickl formuliert und damit rhetorisch schon einmal das Einfallstor für den autoritären Staat geöffnet, der sich an keine internationalen Rechtsvereinbarungen hält, sondern sie nach eigenem Gutdünken neu gestaltet.
Private und öffentliche Medien, die sich auf die rechtspopulistischen Narrative nicht einlassen, werden als feindlich empfunden, was zur Folge hat, dass kritische Stimmen in ihre Reihen kaum noch durchdringen. Aber das ist genau das, was die Politik der Gefühle auch im Waldheim-Wahlkampf bezweckt und erreicht hat. Den Anhängern soll suggeriert werden, dass sie im Umfeld einer feindseligen Parteien- und Medienlandschaft verraten, verkauft und verfolgt werden, worauf es nur eine sinnvolle Reaktion gibt, nämlich sich wehrhaft hinter ihren Führern zusammenzuschließen.
Am 13. und 14. September fand in Madrid ein europäisches Treffen rechtspopulistischer und rechtsextremer Parteien und Gruppierungen statt. Alle waren sie dort vertreten, von der spanischen VOX über die italienischen Fratelli d’Italia, dem Rassemblement National, der deutschen AfD, der österreichischen FPÖ bis zu einer Fülle kleinerer Gruppen aus anderen europäischen Ländern. Das Treffen wurde als „rechte Allianz“ gefeiert und als „neue Achse des Widerstands“. Die österreichische Delegation wurde von Herbert Kickl angeführt. Er sprach von einer „europäischen rechten Front“, die sich zusammenschließe, um die Migrationspolitik und die Energiepolitik Europas zu bekämpfen und die nationale Souveränität zu stärken. Darin waren sich alle einig. Wie die New York Times berichtete, waren sie sich auch in einem anderen Punkt einig. Sie erklärten Charlie Kirk, der ein paar Tage zuvor auf dem Campus der Utah Valley University erschossen worden war und zu dem es über Jahre hinweg schon Kontakte gab, zum Märtyrer der eigenen Bewegung. Sein Tod diente ihnen als evidenter Beweis für das Narrativ oder den Mythos der eigenen Verfolgung.
Doch was geschieht dort, wo die Rechtspopulisten die politische Macht erringen? Es folgen sofort Angriffe gegen die beiden wichtigsten Kräfte, die ihre Machtfülle noch in Zaum halten könnten, in Europa genauso wie in den USA. Sie versuchen einerseits die unabhängige Gerichtsbarkeit zurückzudrängen und durch die eigene exekutive Gewalt zu ersetzen, und sie versuchen andererseits die privaten und öffentlichen Medien unter ihre Kontrolle zu bringen. Sollte die FPÖ in Österreich die Macht erringen, wäre es vorbei mit der ohnedies nur mühsam errungenen Unabhängigkeit des ORF.
Die größte Gefahr der mentalen Neuorientierung durch Rechtspopulisten sehe ich im systematischen Abbau internationaler Rechtsnormen. Dass mutmaßliche Verbrecher nicht vor den Richter gebracht, sondern mit intelligenten Waffen kurzerhand ausgelöscht werden, ist heutzutage ein alltäglicher Vorgang geworden. Die internationale Gerichtsbarkeit wird systematisch delegitimiert.
Ich frage mich, welche guten Taten werden wir anführen können, wenn man uns eines Tages fragen wird, was habt ihr getan, als das internationale Rechtssystem Schritt für Schritt zerstört wurde. Davon wird heute, so steht zu erwarten, noch viel die Rede sein – und ich werde aufmerksam zuhören.
Josef Haslinger ist ein österreichischer Schriftsteller und ehemaliger Präsident des Deutschen PEN-Zentrums. Nach seinem Studium der Philosophie, Theaterwissenschaft und Germanistik in Wien wurde er mit zeitkritischen Romanen wie Opernball (1995) und Das Vaterspiel (2000) bekannt. Seit 1996 lehrt Haslinger als Professor für literarische Ästhetik am Deutschen Literaturinstitut Leipzig.
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