Im Theater, im gemeinsamen Beobachten des Spiels, fand das Volk zu einem gemeinsamen Konsens über die Frage, wie man zusammenleben will – ein symbolischer Schulterschluss zwischen Kunst und politischer Mitgestaltung. Es entwickelte sich ein humanistischer Wertekanon, ein Grundstein unserer Demokratie. Ist das Theater als analoge Kunstform vielleicht die letzte Bastion, in der wir uns über gemeinsame Werte verständigen können?
In Zeiten der weltweiten Verunsicherung durch Klimawandel, moderne Technologie und Krieg entsteht bei vielen Menschen eine Sehnsucht nach einer starken Heilsfigur, einer Autorität, die einfache Lösungen anbietet. Dass diese Führer-Figuren, wie Trump oder Orban sukzessive autokratische Strukturen einführen und damit schwer erkämpfte Verfassungsrechte und Freiheiten beschneiden, ist vielen nicht bewusst.
Aber wollen wir wirklich die schwer erkämpfte Freiheit so leichtfertig abgeben? Wollen wir es zulassen, dass über 70 Jahre Frieden in Europa durch totalitäre Ideen und populistische Parteien gefährdet wird? Dass unser Rechtssystem, das unser friedliches und freies Zusammenleben garantiert, angegriffen und in Frage gestellt wird? Im antiken Griechenland, der Wiege der Demokratie, wurde am Theater über Recht und Unrecht verhandelt. Die Erstaufführung der „Orestie“ von Aischylos im Jahre 458 v. Chr. fällt mit dem Geburtsjahr der Demokratie zusammen. Die „Orestie“ handelt von Rache und Versöhnung innerhalb des Atriden-Geschlechts. Um den Tod seines Vaters zu rächen, tötet Orest seine Mutter Klytaimnestra, die er für die Mörderin seines Vaters hält. Orest bereut jedoch seine aus dem Affekt heraus entstandene Tat und will Versöhnung. Aischylos´ Atriden-Zyklus markiert den Übergang von Blutrache zu einem rechtlichen Ordnungsprinzip. Er zeigt auf, wie Gewaltspiralen durch ein gerechtes Rechtssystem abgelöst werden können. Im Theater, im gemeinsamen Beobachten des Spiels, fand das Volk zu einem gemeinsamen Konsens über die Frage, wie man zusammenleben will – ein symbolischer Schulterschluss zwischen Kunst und politischer Mitgestaltung. Es entwickelte sich ein humanistischer Wertekanon, ein Grundstein unserer Demokratie.
Aber was passiert, wenn es keine Einigkeit mehr über diese demokratischen Werte gibt, wie Barack Obama in seinem Interview mit Markus Lanz konstatierte. Wenn Werte wie Toleranz, Solidarität, Freiheit relativiert werden? Wenn Verschwörungstheorien aus dem Netz jegliche wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse in Frage stellen? Giuliano da Empoli, Politikwissenschaftler und ehemaliger Berater der italienischen Regierung unter Matteo Renzi, warnt vor der Gefahr der Zersetzung der liberalen Demokratie in Europa durch die Tech-Konzerne aus dem Silicon Valley. Was ist, wenn der Algorithmus den Weg vorgibt? „Das ist keine technische Frage“, sagt Giuliano da Empoli, „es ist eine Frage der Macht.“ Was können wir also tun, damit Big Tech, die Algorithmen und die künstliche Intelligenz fast 2000 Jahre alte Demokratie nicht unterminieren?
Das Landestheater Niederösterreich hat mit den Bürger*innen der Stadt ein Musical mit dem Titel „Du hast die Wahl“ auf die Bühne gebracht. Die Inszenierung ist eine Text- und Musik-Collage aus historischen Dokumenten, wie z.B. über die Entwicklung der Demokratie in Europa und aus gesellschaftspolitischen Stücken von Aischylos bis Brecht. Genauso waren auch persönliche Erlebnisse mit eingebaut, wie z.B. die Teilnahme am aktiven Widerstand für Umweltschutz gegen das Atomkraftwerk Zwentendorf. Die Bürger*innen haben am Ende des Stückes die Demokratie, ihre Freiheit und ihre Werte gefeiert. Sie haben den Feinden dieser Freiheit den Kampf angesagt.
Ist das Theater als analoge Kunstform vielleicht die letzte Bastion, in der wir uns über gemeinsame Werte verständigen können? Bis heute ist das Theater die Urzelle der Demokratie, der Ort, wo das gemeinsame Erlebnis eines Theaterstücks Menschen mit unterschiedlichsten Meinungen zusammenbringt. Es ist ein Forum für politische Reflexion und gesellschaftliche Auseinandersetzung, ein Ort, um unsere demokratischen Werte zu verteidigen und um Mut zu machen zum Widerstand gegen Unrecht und Unterdrückung. Wir haben die Wahl!
Marie Rötzer, geboren in Mistelbach (Niederösterreich), studierte Theaterwissenschaft und Germanistik in Wien. Sie war als Dramaturgin am Maxim Gorki Theater in Berlin, am Schauspielhaus Graz und am Thalia Theater in Hamburg tätig. Seit 2016 leitet sie das Landestheater Niederösterreich. Ab der Spielzeit 2026/27 übernimmt sie die künstlerische Direktion des Theaters in der Josefstadt in Wien.
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