Eine umfassende Verankerung der Menschenrechtsbildung, vom Kindergarten bis zu den Universitäten und die Erwachsenenbildung, ist das Gebot der Stunde. Im Unterschied zur Demokratie, deren Werte von den Staaten in sehr unterschiedlicher Weise interpretiert werden, sind die Menschenrechte in unzähligen internationalen und regionalen Verträgen genau definiert und für alle Staaten in völkerrechtlich verbindlicher Weise verankert.
Im Regierungsprogramm Österreich 2025-2029 wird mehrmals auf die „Demokratiebildung“ Bezug genommen.[1] Der Bildungsrahmenplan, der die Bildungsinhalte im Kindergarten bundesweit festschreibt, soll aktualisiert und überarbeitet werden. Dabei sollen insbesondere „Wertevermittlung und frühkindliche Demokratiebildung“ sowie Kinderrechte berücksichtigt werden. Außerdem sollen die „österreichische Lebensart und traditionelle Feiern sowie unser liberales Demokratieverständnis“ bereits im Kindergarten vermittelt werden.
Im Kapitel „Werte und Integration“ im Rahmen der schulischen Bildung finden sich folgende Zielsetzungen:
Im Kapitel „Innovation in Schule und Unterricht“ werden weitere inhaltliche Schwerpunkte in Aussicht gestellt, „um Schülerinnen und Schüler die nötigen Kompetenzen in den Bereichen liberale Demokratie, Digitalisierung, Wirtschaft, Finanzen, Entrepreneurship Education, Medienkompetenz, Kunst/ Kultur und Gesundheit zu vermitteln“.
Schließlich sieht das Regierungsprogramm vor, dass Demokratiebildung in der Sekundarstufe I als eigenes Unterrichtsfach verpflichtend verankert werden soll.
Die Zusammenschau dieser Zielsetzungen zeigt, dass die derzeitige Bundesregierung den Kindern ab dem Kindergarten bis zur 8. Schulstufe „unser liberales Demokratieverständnis“ einschließlich der österreichischen Lebensart und traditioneller Feiern vermitteln will, um sie vor dem Abdriften in das Wertesystem des „Politischen Islam“ zu beschützen. Außerdem soll die islamische Religionspädagogik strenger überwacht, an die Grundsätze der Menschenrechte gebunden und im Einklang mit „unserem westlichen Lebensmodell (Europäischer Islam)“ unterrichtet werden.
Dass Demokratiebildung als eigenes Unterrichtsfach verankert werden soll, ist sicherlich zu begrüßen. Unter der sozialdemokratischen Alleinregierung Bruno Kreiskys wurde „Politische Bildung“ 1978 von Unterrichtsminister Fred Sinowatz als Unterrichtsprinzip für alle Schulformen, Schulstufen und Gegenstände verankert.[2] Damals hatte Österreich enormen Aufholbedarf gegenüber anderen westlichen Demokratien. Im Zentrum sozialdemokratischer Politik stand die „Demokratisierung aller Lebensbereiche“, von der Familie über die Schulen und Universitäten bis zum Militär. Laut dem Grundsatzerlass 1978 bestand das wesentliche Anliegen der Politischen Bildung in der „Erziehung zu einem demokratisch fundierten Österreichbewusstsein, zu einem gesamteuropäischen Denken und zu einer Weltoffenheit, die vom Verständnis für die existentiellen Probleme der Menschheit getragen ist.“ Von den Menschenrechten war in diesem Grundsatzerlass nur einmal die Rede: „Dem Schüler soll bewusst werden, daß in einem demokratischen Gemeinwesen bei der Durchsetzung legitimer Interessen oft Zivilcourage nötig ist und daß Mehrheitsentscheidungen anzuerkennen sind, soferene sie in demokratischer Weise erfolgten und den Grundsätzen der Allgemeinen Menschenrechte entsprechen.“
Gemäß des derzeitigen Grundsatzerlasses von Gabriele Heinisch-Hostek aus dem Jahr 2015 beruht die Politische Bildung an österreichischen Schulen auf drei Säulen: als selbständiger Unterrichtsgegenstand oder als Kombinations- bzw. Flächenfach in den Lehrplänen; im Rahmen der Schulpartnerschaft und der gesetzlichen Vertretung der SchülerInnen; und als flächenübergreifendes Unterrichtsprinzip auf allen Schulstufen als „bedeutender Beitrag zur Gestaltung der Gesellschaft sowie zur Verwirklichung und Weiterentwicklung der Demokratie und Menschenrechte“.[3]
Zur Ausbildung jener freiwilligen Lehrer und Lehrerinnen, die das Unterrichtsprinzip in ihren jeweiligen Unterrichtseinheiten umsetzen wollten, wurde am Institut für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung (IFF) ein eigener Hochschullehrgang (später Universitätslehrgang) Politische Bildung eingerichtet. Hannes Tretter und ich hatten sich von Anfang an vehement dafür eingesetzt, dass die Grund- und Menschenrechte Teil dieses Lehrgangs wurden. Im November 1982 hielten wir gemeinsam mit Raoul Kneucker das erste Seminar zu diesem Thema in St. Pölten, und danach zu zweit über viele Jahre in unterschiedlichen österreichischen Bildungsinstitutionen.[4] Nach der gemeinsamen Gründung des Ludwig Boltzmann Instituts für Menschenrechte 1992 etablierten wir dort das Zentrum Polis (Politik Lernen in der Schule), das zur wichtigsten Institution der Lehrer:innenfortbildung in den Bereichen Politische Bildung, Demokratie- und Menschenrechtsbildung in Österreich wurde. Heute ist Polis unter der Leitung von Patricia Hladschik Teil des Wiener Forums für Demokratie und Menschenrechte.
Seit den Anfängen der Politischen Bildung in Österreich vor einem halben Jahrhundert hat sich die Welt grundlegend verändert. Während damals die „Demokratisierung aller Lebensbereiche“ und der Abbau „besonderer Gewaltverhältnisse, auch in der Schule, im Vordergrund standen, sind wir heute damit konfrontiert, dass die neoliberale Globalisierung und Digitalisierung, die Macht transnationaler Konzerne und sozialer Medien, die enorme ökonomische Ungleichheit, Kriege, Pandemien und Zerstörung unseres Planeten zu einer Radikalisierung und Polarisierung unserer Gesellschaften geführt hat, welche die Grundfeste der Nachkriegsordnung und die Grundwerte von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit bedrohen. Parallel dazu haben sich die Menschenrechte zum einzigen universell anerkannten Wertesystem entwickelt, das in völkerrechtlich bindender Weise auch Demokratie und Rechtsstaat umfasst. Statt Ethikunterricht und Demokratiebildung ist daher eine umfassende Verankerung der Menschenrechtsbildung, vom Kindergarten bis zu den Universitäten und die Erwachsenenbildung, das Gebot der Stunde.
Dazu kommt, dass Österreich wie alle anderen Staaten völkerrechtlich dazu verpflichtet ist, sein Bildungssystem an den universell anerkannten Menschenrechten zu orientieren. Artikel 26 der Universellen Erklärung der Menschenrechte 1948, Artikel 13 des Internationalen Pakts über Bürgerliche und Politische Rechte 1966 und Artikel 29 der UNO-Kinderrechtekonvention 1989 garantieren ein Recht auf Bildung, das auf die „volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und des Bewusstseins ihrer Würde gerichtet sei und die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten stärken muss“. In § 79 ihres Aktionsplans rief die Wiener Weltmenschenrechtskonferenz 1993 alle Staaten und relevanten Institutionen dazu auf, „die Menschenrechte, das humanitäre Recht, die Demokratie und den Rechtsstaat als Unterrichtsschwerpunkte in formellem und nichtformellem Rahmen in die Lehrpläne aller Bildungseinrichtungen aufzunehmen“. Darauf folgte die UNO-Dekade für Menschenrechtsbildung 1995-2004 und schließlich die Erklärung der Vereinten Nationen über Menschenrechtsbildung und -training aus dem Jahr 2011.
Im Unterschied zur Demokratie, deren Werte von den Staaten in sehr unterschiedlicher Weise interpretiert werden, sind die Menschenrechte in unzähligen internationalen und regionalen Verträgen genau definiert und für alle Staaten in völkerrechtlich verbindlicher Weise verankert. Gemäß Artikel 2(2) der UNO-Erklärung über Menschenrechtsbildung 2011 umfasst Menschenrechtsbildung und -training Bildung über, durch und für Menschenrechte. Bildung über Menschenrechte bedeutet „die Bereitstellung von Wissen und das Verständnis für Normen und Prinzipien der Menschenrechte sowie der ihnen zugrunde liegenden Werte und Mechanismen zu ihrem Schutz“. Bildung durch Menschenrechte umfasst „Formen des Lernens und Unterrichtens, welche die Rechte sowohl der Lehrenden als auch der Lernenden achten“. Bildung für Menschenrechte bedeutet „Menschen darin zu stärken, ihre Rechte wahrzunehmen und auszuüben sowie die Rechte anderer zu achten und hochzuhalten“.[5] Es geht also darum, allen Kindern und Jugendlichen Menschenrechte durch Wissen, Fertigkeiten und Haltung zu vermitteln. Dazu ist es vor allem notwendig, ein eigenes Fach „Menschenrechtsbildung“ in die Lehrpläne der Universitäten und Pädagogischen Hochschulen in Österreich aufzunehmen, damit Lehrer:innen entsprechend ausgebildet werden.
Statt anlassbezogen „Demokratiebildung“ als eigenes Unterrichtsfach in der Sekundarstufe I zu verankern, um ein Abdriften unserer Kinder in den „Politischen Islam“ zu verhindern, sollte die Bundesregierung daher endlich ihrer völkerrechtlichen Verpflichtung nachkommen, „Menschenrechtsbildung“ im Bildungsrahmenplan für Kindergärten festzuschreiben, in allen Schultypen und Schulstufen als Pflichtfach zu verankern, und an den Universitäten und Pädagogischen Hochschulen entsprechende Studien für alle Lehrer:innen einzuführen.
[1] https://www.bundeskanzleramt.gv.at/bundeskanzleramt/die-bundesregierung/regierungsdokumente.html
siehe: Regierungsprogramm Österreich 2025 – 2029: „Jetzt das Richtige Tun. Für Österreich“, Kapitel „Bildung, Innovation und Zukunft“, Unterkapitel über Elementarpädagogoik und Schulische Bildung, 183 ff.
[2] Rundschreiben vom 21.8.1978, GZ 33.464/6-19a/1978; wiederverlautbart als Rundschreiben Nr. 15/1994 (BMBWF), GZ 33.466/103-V/4a/94 am 9.3.1994 durch Minister Rudolf Scholten.
[3] Rundschreiben Nr. 12/2015 (BMWBF): Unterrichtsprinzip Politische Bildung, Grundsatzerlass 2015, GZ 33.466/0029-I/6/2015; www.politische-bildung.at.
[4] Siehe Raoul F. Kneucker/Manfred Nowak/Hannes Tretter, Menschenrechte-Grundrechte, Materialien und Texte zur Politischen Bildung, Band 7 (herausgegeben von Gertraud Diem-Wille), Österreichiscer Bundesverlag, Wien 1992; Manfred Nowak, Menschenrechtsbildung als Teil der Politischen Bildung, in Gertraud Diem-Wille/Ludwig Nagl/Anton Pelinka/Friedrich Stadler (Hg.), Europa, Demokratie, Ökumene, Kultur, Festschrift für Raoul Kneucker zum 80. Geburtstag, Böhlau Verlag Wien/Köln/Weimar 2018, 51.
[5] Resolution der UNO-Generalversammlung 66/137 vom 19.12.2011. Vgl. dazu Wolfgang Benedek, „Human Rights Education”, in Christina Binder/Manfred Nowak/Jane A. Hofbauer/Philipp Janig (Hrsg.), Elgar Encyclopedia of Human Rights, Vol. 2, Edward Elgar Publishing, Cheltenham/Northampton 2022, 461.
Manfred Nowak ist Univ.-Prof. für Menschenrechte, Vorstandsmitglied des Wiener Forums für Demokratie und Menschenrechte, Leiter des Vienna Master of Arts in Human Rights an der Universität Wien, Generalsekretär des Global Campus of Human Rights in Venedig, Co-Gründer und Co-Direktor des Ludwig Boltzmann Instituts für Menschenrechte (BIM) 1992–2019
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