Die universell anerkannten Menschenrechte und insbesondere die darin enthaltenen politischen Rechte und Freiheiten garantieren in Wahrheit ein Recht aller Völker und aller Menschen auf Demokratie. Um Frieden zu erhalten, müssen wir Menschenrechte schützen, und um Menschenrechte zu schützen, brauchen wir gut funktionierende Demokratien mit „checks and balances“ und menschenrechtlichen Kontrollinstanzen.
Während der 1949 gegründete Europarat als westeuropäische, anti-kommunistische und anti-faschistische Organisation auf den drei Säulen Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaat beruht, waren die Vereinten Nationen 1945 mit den drei Zielen Friedenserhaltung, Entwicklung und Menschenrechte - geschaffen worden. Als universelle Organisation sollten die Vereinten Nationen für alle Staaten der Welt offen sein, und zwar unabhängig davon, ob sie demokratisch oder autokratisch regiert wurden. Deshalb findet sich in der Satzung der Vereinten Nationen auch kein Hinweis auf Demokratie als gemeinsamer Wert. Gemäß Artikel 4 der Satzung steht die Mitgliedschaft allen friedliebenden Staaten offen, welche die in der Satzung enthaltenen Verpflichtungen wie Gewaltverbot, Nicht-Einmischung in innerstaatliche Angelegenheiten, friedliche Streitbeilegung oder die Achtung der Menschenrechte ohne Diskriminierung erfüllen. Allerdings hat die Satzung den Inhalt der Menschenrechte nicht selbst definiert, sondern überließ diese Aufgabe der gemäß Artikel 68 einzurichtenden Menschenrechtskommission. Diese nahm ihre Arbeit im Jahr 1946 mit dem Ziel auf, die Menschenrechte in einer Deklaration zu definieren und danach in einer rechtlich verbindlichen Konvention samt Durchsetzungsmechanismen näher auszugestalten.
„Der Wille des Volkes bildet die Grundlage für die Autorität der öffentlichen Gewalt; dieser Wille muß durch regelmäßige, unverfälschte, allgemeine und gleiche Wahlen mit geheimer Stimmabgabe oder einem gleichwertigen freien Wahlverfahren zum Ausdruck kommen.“
Artikel 21 Abs 3 der Universellen Erklärung der Menschenrechte
Die 1948 von der Generalversammlung verabschiedete Universelle Erklärung der Menschenrechte ist nicht, wie immer wieder fälschlicherweise behauptet wird, ein westliches Dokument, sondern stellt eine Synthese zwischen unterschiedlichen Konzepten aus allen Weltregionen und insbesondere zwischen dem westlichen und dem sozialistischen Menschenrechtsverständnis dar. Die Artikel 1 bis 21 enthalten die wichtigsten bürgerlichen und politischen Rechte, die Artikel 22 bis 27 die wichtigsten wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte, wie sie später in den beiden gleichnamigen Menschenrechtspakten aus dem Jahr 1966 in rechtlich verbindlicher Weise verankert wurden. Schon ein kurzer Blick zeigt, dass die politischen Menschenrechte und Grundfreiheiten alle wesentlichen Elemente und Voraussetzungen einer Demokratie enthalten. Artikel 21 der Universellen Erklärung verbürgt wie Artikel 25 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte das Recht aller Menschen, an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten ihres Landes unmittelbar oder durch frei gewählte Repräsentant: innen mitzuwirken: „Der Wille des Volkes bildet die Grundlage für die Autorität der öffentlichen Gewalt; dieser Wille muß durch regelmäßige, unverfälschte, allgemeine und gleiche Wahlen mit geheimer Stimmabgabe oder einem gleichwertigen freien Wahlverfahren zum Ausdruck kommen.“ (Artikel 21 Abs 3 der Universellen Erklärung). Artikel 19 und 20 der Universellen Erklärung garantieren ebenso wie die Artikel 19 bis 22 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte, die für eine liberale Demokratie essentiellen Rechte der Meinungs-, Informations-, Medien, Vereins- und Versammlungsfreiheit. In den Artikeln 21 und 22 des Pakts wird sogar ausdrücklich bestimmt, dass diese politischen Freiheitsrechte nur solchen Einschränkungen unterworfen werden dürfen, die in einer „demokratischen Gesellschaft“ notwendig sind. Darüber hinaus enthält Artikel 1 beider Pakte das Recht aller Völker auf Selbstbestimmung, und in den Artikeln 14, 26 und 27 des Paktes über bürgerliche und politische Rechte werden auch die für eine funktionierende Demokratie essentiellen Rechte auf Gleichheit vor dem Gesetz, gleichen Schutz durch das Gesetz, gleichen Zugang zu einer unabhängigen Justiz, Schutz gegen jede Form von Diskriminierung sowie Minderheitenschutz garantiert.
Auch wenn immer wieder die These aufgestellt wurde, dass Menschenrechte in Demokratien wie Diktaturen gleichermaßen gewährleistet werden könnten, so zeigt diese kurze Analyse, dass diese These nicht stimmt. Die universell anerkannten Menschenrechte und insbesondere die darin enthaltenen politischen Rechte und Freiheiten garantieren in Wahrheit ein Recht aller Völker und aller Menschen auf Demokratie. Mit „Demokratie“ ist in diesen Menschenrechtsdokumenten die liberale und soziale Demokratie gemeint und nicht jene sogenannte „Demokratie“, die manche Diktaturen wie die „Deutsche Demokratische Republik“ (DDR), die „Demokratische Volksrepublik Korea“ (Nordkorea) oder die „Demokratische Republik Kongo“ so gerne in ihrem Namen vor sich hertragen. Sobald Staaten in autoritäre Strukturen abdriften, verletzen sie notwendigerweise das Wahlrecht, die Meinungs-, Medien-, Vereins- und Versammlungsfreiheit bzw. schränken diese demokratischen Freiheitsrechte in einer Weise ein, die in einer „demokratischen Gesellschaft“ unzulässig ist.
Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime in Mittel- und Osteuropa und dem Ende des Kalten Kriegs haben auch die Vereinten Nationen offiziell die wechselseitige Bedingtheit von Menschenrechten und Demokratie anerkannt. Artikel 8 der Wiener Erklärung, die von allen Staaten als Ergebnis der Weltkonferenz über Menschenrechte 1993 im Konsens angenommen wurde, bestimmt: „Demokratie, Entwicklung und Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sind interdependent und stärken einander. Die Demokratie beruht auf dem frei zum Ausdruck gebrachten Willen des Volkes, über seine politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Systeme zu bestimmen, und auf seiner vollen Teilnahme an allen Aspekten seines Lebens. In diesem Sinne sollen die Förderung und der Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten auf nationaler und internationaler Ebene universell und ohne einschränkende Bedingungen verwirklicht werden. Die internationale Gemeinschaft soll die Stärkung und Förderung der Demokratie, der Entwicklung sowie der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten auf der ganzen Welt unterstützen.“ In ähnlichem Sinne formulierte auch der Menschenrechtsausschuss, das für die Überwachung und Interpretation des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte zuständige Expert: innengremium der Vereinten Nationen, seine von allen Mitgliedern einstimmig angenommene Allgemeine Bemerkung 25 zu politischen Rechten aus dem Jahr 1996, wie folgt (Paragraph 1): „Artikel 25 steht im Zentrum einer demokratischen Regierungsform, basierend auf dem Willen des Volkes und in Übereinstimmung mit den Prinzipien des Paktes.“
Auch in der Praxis zeigt sich, dass alle Menschenrechte, bürgerliche und politische ebenso wie wirtschaftliche, soziale, kulturelle und kollektive Rechte, in gut funktionierenden Demokratien besser geschützt und geachtet werden als in „illiberalen Demokratien“ oder autokratischen Regierungssystemen. Umgekehrt stärken auch gut funktionierende Menschenrechtsstrukturen die Qualität demokratischer Regierungssysteme. Viele Beispiele, gerade in jüngster Zeit, illustrieren, dass autoritäre Politiker (in der Regel Männer), auch wenn sie in demokratischen Wahlen an die Macht kamen, zuerst die politischen Freiheitsrechte wie die Meinungs- und Versammlungsfreiheit einschränken, unabhängige Medien und die unabhängige Justiz unter ihre Kontrolle bringen, um dann freie und faire Wahlen zu manipulieren und zunehmend autoritär zu regieren. Sobald die demokratischen und rechtsstaatlichen Kontrollinstanzen ausgeschaltet sind, werden Menschen in willkürlicher Weise diskriminiert, Minderheitenrechte beschränkt und viele andere Menschenrechte verletzt. Das gilt auch für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte auf soziale Sicherheit, einen adäquaten Lebensstandard, Gesundheit oder Bildung. Beispielsweise hat der indische Ökonom und Nobelpreisträger Amartya Sen durch empirische Untersuchungen nachgewiesen, dass es in gut funktionierenden Demokratien bisher keine Hungersnot gab, wohl aber in Diktaturen wie z.B in Nordkorea. Die demokratische Friedenstheorie, die auf dem „ewigen Frieden“ von Immanuel Kant und „Common Sense“ von Thomas Paine zurückgeht und durch moderne politikwissenschaftliche Forschungen von Michael Doyle bis Francis Fukuyama untermauert wird, zeigt auch, dass gut funktionierende Demokratien in der Regel keine Kriege gegeneinander führen, während autokratische Regime oft Kriege vom Zaun brechen, um ihre Macht zu zementieren. Auf der Grundlage dieser Erfahrungen haben die Vereinten Nationen in der Präambel der Universellen Erklärung der Menschenrechte betont, dass „die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet“. Um Frieden zu erhalten, müssen wir Menschenrechte schützen, und um Menschenrechte zu schützen, brauchen wir gut funktionierende Demokratien mit „checks and balances“ und menschenrechtlichen Kontrollinstanzen.
Michael W. Doyle, Liberal Internationalism: Peace, War and Democracy, www.nobelprize.org/prizes/themes/liberal-internationalism-peace-war-and-democracy.
Michael Doyle, Why They Don’t Fight, Foreign Affairs, 18 June 2024, www.foreignaffairs.com/world/why-they-dont-fight-doyle.
Francis Fukuyama, The End of History and the Last Man, Free Press, New York 2006.
Immanuel Kant, Zum Ewigen Frieden, Ein philosophischer Entwurf, 1795.
Robert Longley, What is the Democratic Peace Theory? Definitions and Examples, ThoughtCo, 2 January 2022, www.thoughtco.com/democratic-peace-theory-4769410.
Manfred Nowak, Politische Grundrechte, Springer Verlag, Wien 1988.
Manfred Nowak, Einführung in das Internationale Menschenrechtssystem, Neuer Wissenschaftlicher Verlag, Wien 2002.
Thomas Paine, Common Sense, 1776.
Amartya Sen, Poverty and Famines: An Essay on Entitlement and Deprivation, Oxford University Press, Oxford/New York 1982.
Manfred Nowak ist Univ.-Prof. für Menschenrechte, Vorstandsmitglied des Wiener Forums für Demokratie und Menschenrechte, Leiter des Vienna Master of Arts in Human Rights an der Universität Wien, Generalsekretär des Global Campus of Human Rights in Venedig, Co-Gründer und Co-Direktor des Ludwig Boltzmann Instituts für Menschenrechte (BIM) 1992–2019