Wie sich Europa im globalen Flüchtlingsschutz positioniert und welche Wertigkeit es dem Asylrecht zumisst, wird entscheidend sein für seine Zukunft und seine Glaubwürdigkeit nach außen, vor allem aber für das Zusammenleben in seinem Inneren. An Europas Grenzen braucht es nicht mehr Gewalt, sondern mehr Demokratie, so dieser Kontinent und wir alle, die ihn Heimat nennen dürfen, eine demokratische Zukunft haben sollen.
Rechten, anti-demokratischen und illiberalen Kräften quer durch Europa ist es in den letzten Jahren gelungen, das Thema Asyl und Migration auf eine Weise zu instrumentalisieren, an der die europäische Demokratie zu zerbrechen droht. Inzwischen gehören das Leiden und Sterben an Europas Außengrenzen zur Normalität. Brutale Pushbacks an Land und auf See haben nicht nur weitrechende Gewöhnungseffekte erzeugt, es wird auch immer schwerer, gegen solche Menschenrechtsverstöße vorzugehen. Geflüchtete werden dehumanisiert und ihres Rechts auf Asylantragstellung beraubt, ihre Unterstützer:innen systematisch kriminalisiert und in der täglichen Arbeit behindert. Zahlreiche Praktiken, die bis dato als unionsrechtwidrig galten, werden nun im Rahmen der über viele Jahre vorbereiteten Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS), von der Mehrheit der Fraktionen im Europaparlament beschlossen, legalisiert.„Harte Kante“ gegen „illegale Migranten“, um es in den Worten des österreichischen Innenministers zu formulieren, bestimmt somit den Kurs.[i]
Schon vor der Verabschiedung des „Asylkompromisses“ kündigten mehrere Mitgliedstaaten, darunter Ungarn, Polen und die Niederlande an, sich nicht an dem flexiblen, aber verpflichtenden Solidaritätsmechanismus für eine faire Verteilung von Geflüchteten innerhalb der EU-27 beteiligen zu wollen. Die sogenannten Med 5, also Italien, Griechenland, Zypern, Malta und Spanien, kritisierten die gesamte Reform als „wenig ehrgeizig“ und forderten mehr Mittel für die Verhinderung von Migrationsströmen bereits in jenen Ländern, in denen sie entstehen. Ebenfalls laut, aber von der gegenteiligen Seite kommend, war die Kritik von Expert:innen und NGOs, die befürchten, dass die Reform im Laufe der Zeit grundlegende europäische Prinzipien aushöhlen und internationales Recht weiter torpedieren wird, während die Hauptprobleme der EU-Asylpolitik, wie die mangelnde Rechenschaftspflicht jener Mitgliedstaaten, die sich nicht am europäischen Asylwesen beteiligen wollen, nicht angegangen werden.
All das ist ein vernichtendes Urteil für eine Reform, an der mehr als drei Jahre gearbeitet wurde, in einer sich verändernden geopolitischen Landschaft und zunehmenden Versuchen der „hybriden Kriegsführung“ durch autokratische Machthaber, die Migrant:innen als Spielfiguren in diplomatischen Disputen einsetzen. Dabei wäre in kaum einem anderen Politikbereich eine gemeinsame europäische Antwort so zentral wie in der Migrations- und Asylpolitik. Angesichts zahlreicher nationaler Alleingänge seit dem Verabschieden der Reform, von deutschen Binnengrenzkontrollen bis zum griechischen Aussetzen der Bearbeitung bereits gestellter Asylanträge, ist ein ehrliches Bemühen um eine gemeinsame Antwort in der Dissonanz der Mitgliedstaaten kaum mehr wahrnehmbar.
Gleichzeitigt stellt die Attrahierung von ausländischen Arbeitskräften eine der größten Herausforderungen für die Mitgliedsstaaten dar. Mit seiner rapide alternden Bevölkerung und den sinkenden Geburtenraten kann es sich Europa eigentlich gar nicht leisten, abschreckende Signale an Drittstaatsangehörige aller Qualifikationsstufen zu senden. Denn Studien zeigen, dass ein direkter Zusammenhang zwischen der Asylpolitik eines Landes und seiner Attraktivität für ausländische Arbeitskräfte besteht.[ii] Ein anhaltender Anti-Migrations-Diskurs und eine restriktive Politik gegenüber Flüchtlingen wirken sich auch auf die Migrationsabsichten hochqualifizierter Migranten aus. Als der frühere US-Präsident Donald Trump seinen berüchtigten Muslim-Ban einführte, der die Einwanderung aus islamischen Ländern stark einschränkte, waren auch gut ausgebildete und wohlhabende Expats aus Industrieländern, auf die die amerikanische Wirtschaft seit jeher angewiesen ist, weniger an einer Auswanderung in die USA interessiert.[iii] Die Förderung der „erwünschten“ qualifizierten Migration funktioniert also nur in Verbindung mit einer generellen Willkommenskultur, unabhängig von der Art der Migration. Die Entwicklung einer gemeinsamen Antwort auf Arbeitsmigration und humanitäre Migration ist unerlässlich, wenn Zusammenhalt, Wohlstand und Lebensqualität in Europa erhalten werden sollen.
Allein, diese Wahrheit scheint unter den Mitgliedstaaten nicht verfangen zu wollen. In vielen von ihnen ist es rechten Kräften gelungen, den Diskurs in Sachen Migration zu bestimmen und zu radikalisieren. An das Sterben an Europas Grenzen haben wir uns längst gewöhnt. 66.519 Menschen sind laut der ehrenamtlichen Initiative UNITED Against Refugee Deaths, die dazu akribisch Listen führt, seit 1993 auf ihrer Flucht nach bzw. in Europa ums Leben gekommen. Die Dunkelziffer liegt um ein Vielfaches höher. Dennoch, wenn nicht gerade ein Schiffbruch historischen Ausmaßes, wie jener im Juni 2023 vor Pylos mit rund 500 Toten, geschieht, interessieren sie kaum jemanden mehr.
In den Schlagzeilen stehen die, die lebend ankommen und im politischen wie medialen Diskurs missbraucht werden, um zum wiederholten Mal die Mär einer „Flüchtlingskrise“ auferstehen zu lassen. Angesichts der zuletzt rückläufigen Asylantragszahlen in Europa eine Erzählung, die empirische Grundlagen missen lässt. Das hindert aber Staats- und Regierungschef:innen quer durch das politische Spektrum nicht, über Abschottung, Abschreckung und Auslagerung als „alternativlose“ Antwort auf Europas Migrationsfrage zu diskutieren und zweifelhafte politische Maßnahmen, wie die vom österreichischen Parlament beschlossene Aussetzung der Familienzusammenführung, als großen Erfolg gegen das internationale Schlepperwesen oder die „illegale“ Migration gefeiert. Rechtliche Durchsetzbarkeit und praktische Auswirkungen solcher und ähnlicher Maßnahmen sind zwar, wenn überhaupt, streng begrenzt, und ihr humanitäres Signal verwerflich, aber um umsetzbare und menschliche Lösungen der Migrationsfrage geht es längst nicht mehr.
Hinter der Ausnahmesituation an Europas Grenzen, die längst zu einer chronischen geworden ist, stehen grundlegende Versäumnisse. Versäumnisse, die einen Tribut fordern, und zwar nicht nur von jenen, die in Europa Schutz suchen. Auch die Aufnahmegesellschaft wird dadurch auf die Probe gestellt. Völkerrechtswidrige Pushbacks in der Ägäis und entlang der Balkanroute haben die europäische Bevölkerung an folgenlos bleibende Menschenrechtverstöße gewöhnt. Kidnapping, Sklaverei und sexuelle Ausbeutung gehören an der Peripherie Europas zum Alltag, ebenso wie Treibjagden durch paramilitärische Truppen und ihre Kampfhunde. Menschen auf der Flucht, NGOs und Seenotretter:innen werden systematisch entrechtet.
Diese Entwicklung bleibt nicht ohne Folgen für die Demokratie, die Rechtsstaatlichkeit und den sozialen Zusammenhalt in Europa. Die an den Grenzen erprobte Gewalt in Wort und Tat hat längst die Gesellschaft im Inneren erreicht. Je militanter Grenzen verteidigt werden, um die vermeintliche Ordnung dahinter vor dem „Fremden“ zu bewahren, desto stärker wird ebendiese bedroht: Chaos, Gewalt und offene Rechtsbrüche, das Gefühl der Ohnmacht und Resignation strahlen ins Innere aus.[iv]
Durch die Normalisierung von Leid und Entrechtung an ihrem Rand wird unser Europa insgesamt gleichgültiger, apathischer und kälter. Die Folgen sind eine Verrohung der zivilen Alltagsmoral und demokratischer Institutionen. Als fatal erwies sich die Strategie der Mitteparteien, „den Rechten“ das Wasser abgraben zu wollen, indem man deren Positionen und Diskurse übernahm. Solch eine Anbiederung an radikale Ränder lässt Illiberalität und Autoritarismus erstarken, macht unsere Gesellschaften intoleranter gegenüber allen, die als „anders“ wahrgenommen werden. Rassistischen, menschenverachtenden Positionen werden damit nicht entmachtet, sondern salonfähig gemacht: Das offizielle Europa bereitet den Boden für rechte Parteien, die den Diskurs bei nächster Gelegenheit wieder ein Stück zu ihren Gunsten verschieben.
Das Erstarken rechter, autoritärer und anti-demokratischer Kräfte in Österreich und darüber hinaus verdeutlicht den hohen Preis, den wir für den „Schutz der Grenzen“ zahlen, politisch, moralisch und rechtlich. Das an den Grenzen erprobte „harte Durchgreifen“ legitimiert autoritäre Entwicklungen im Inneren, die nicht mehr zu ignorieren sind.[v] Denn eine Grenze, die von Gewalt geprägt und aufrechterhalten wird, begrenzt auch unsere Demokratie, unsere Grundrechte und deren Durchsetzung.[vi] Durch Zugeständnisse der politischen Mitte an restriktive, das Flüchtlingsrecht einschränkende Positionen verschiebt sich die Grenze des Sag- und Machbaren immer weiter nach rechts.
Dadurch erodiert die anhaltende Gewalt an Europas Grenzen nach und nach die liberale Demokratie und die rechtsstaatlichen Grundsätze, auf die sie gebaut ist. Bürger:innen gewöhnen sich kollektiv daran, dass Rechtsbrüche nicht geahndet werden und Unrecht sanktionslos bleibt.[vii] Seit Jahren brechen mehrere Mitgliedstaaten geltendes Völker- und EU-Recht, ohne nennenswerte Konsequenzen. In Ungarn etwa wirkt die Rechtsstaatlichkeit nur mehr wie eine vage Empfehlung statt wie ein grundlegendes demokratisches Prinzip. Die Unabhängigkeit von Medien und Justiz steht dort ebenso zur Disposition wie die reproduktiven Rechte von Frauen oder der Schutz von LGBTQIA+-Personen. Im weltweiten Rule of Law Index (dt. Rechtsstaatlichkeitsindex), der auf Basis empirischer Daten die Geltung des Rechts in fast allen Ländern weltweit bewertet, liegt das Land hinter Ruanda, Tunesien und den Vereinigten Arabischen Emiraten.[viii]
Abgezeichnet hat sich dieser rechtsstaatliche Abwärtstrend zuallererst an jenen, die für den Stand von Demokratie, Toleranz und Freiheit in einer offenen Gesellschaft schon immer Signalwirkung hatten: Es sind jene, die qua ihrer Herkunft, ihres Aufenthaltsstatus und der erzwungenen Aufgabe des staatlichen Schutzes „on the margins of the world“,[ix] also am Rande dieser Welt, stehen. Die schleichende Beschneidung ihrer Rechte bildet von jeher das Einfallstor für die Verletzung der Grund- und Freiheitsrechte aller. Deshalb muss „der Flüchtling, jene scheinbar marginale Gestalt, als zentrale Figur unserer politischen Geschichte erachtet werden“, als „der Mensch der Menschenrechte“, wie es der italienische Philosoph Giorgio Agamben mit Rückgriff auf Hannah Arendt beschrieb.[x] Damit wird der Umgang mit Geflüchteten zum Lackmustest für unsere Demokratie und der Flüchtling selbst zum Brandmelder, der die Defizite in unseren politischen Institutionen, unserer nationalstaatlichen Ordnung, schlicht: in unserer Gesellschaft anzeigt.[xi]
Wie sich Europa im globalen Flüchtlingsschutz positioniert und welche Wertigkeit es dem Asylrecht zumisst, wird entscheidend sein für seine Zukunft und seine Glaubwürdigkeit nach außen, vor allem aber für das Zusammenleben in seinem Inneren. An Europas Grenzen braucht es nicht mehr Gewalt, sondern mehr Demokratie, so dieser Kontinent und wir alle, die ihn Heimat nennen dürfen, eine demokratische Zukunft haben sollen.
[i] Kohlenberger, J. (2024). Gegen die neue Härte. Dtv.
[ii] Krieger, T. (2024). Rechtspopulismus und Standortattraktivität. Leibniz-Zentrum für europäische Wirtschaftsforschung (ZEW)-Kurzexpertise 24(1).; Pan, W. F. (2023). The effect of populism on high-skilled migration: Evidence from investors. The European Journal of Political Economy 79(102447).
[iii] Duch, R. M., Laroze, D., Reinprecht, C. and Robinson, T. S. (2019). Where Will the British Go? And Why?. Social Survey Quarterly 100(2), pp. 480-493.
[iv] Heins, V. M. und Wolff, F. (2023). Hinter Mauern: Geschlossene Grenzen als Gefahr für die offene Gesellschaft. Suhrkamp.
[v] Hess, S. (2021, Februar 5). Grenzen der Demokratie. Verfassungsblog: On Matters Constitutional. verfassungsblog.de/grenzen-der-demokratie/
[vi] Kohlenberger, J. (2024). Grenzen der Gewalt: Wie Außengrenzen ins Innere wirken. Leykam.
[vii] Wolff, F. (2024, Oktober 17). Innereuropäische Grenzkontrollen sind weitaus mehr, als Lästigkeiten für Reisende. Jacobin. jacobin.de/artikel/migration-grenzkontrollen-schengen-schleuser-nationalstaat
[viii] „WJP Rule of Law Index 2023”. World Justice Project, 2023. <https://worldjusticeproject.org/rule-of-law-index/global>.
[ix] Algier, M. (2008). On the Margins of the World: The Refugee Experience Today. Polity Press.
[x] Agamben, G. (2002). Homo Sacer: Die Souveränität der Macht und das nackte Leben. Suhrkamp.
[xi] Schulze Wessel, J. (2017). Grenzfiguren: Zur politischen Theorie des Flüchtlings. Transcript.
Judith Kohlenberger ist Leiterin des Forschungsinstituts für Migrations- und Fluchtforschung und -management (FORM) der Wirtschaftsuniversität Wien (WU), Senior Researcher am Österreichischen Institut für Internationale Politik (oiip) und Affiliated Policy Fellow am Jacques Delors Centre Berlin. Ihr neues Buch „Migrationspanik: Wie Abschottungspolitik die autoritäre Wende befördert“ erscheint im September 2025 bei Picus.
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