Die rasant zunehmende ökonomische Ungleichheit untergräbt den sozialen Zusammenhalt und die demokratische Legitimität von Gesellschaften. Auch in gut funktionierenden Demokratien wie Österreich nimmt die Demokratie- und Politikverdrossenheit zu. Wenn wir die Demokratie stärken und das Vertrauen in die Politik zurückgewinnen wollen, müssen wir den Staat wieder dazu befähigen, die Wirtschaft zu kontrollieren, die ökonomische Ungleichheit durch Umverteilung auf ein erträgliches Maß zu senken und das Bedürfnis der Menschen auf ein friedliches Miteinander sowie auf positive Gewährleistung ihrer bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte zu befriedigen.
Der französische Ökonom Thomas Piketty hat vor mehr als einem Jahrzehnt in seinem wegweisenden Buch über das Kapital im 21. Jahrhundert nachgewiesen, dass die rasant zunehmende ökonomische Ungleichheit den sozialen Zusammenhalt und die demokratische Legitimität unserer Gesellschaften untergräbt. Die nachfolgende Entwicklung hat ihm Recht gegeben. Mit dem Einzug des Populisten Boris Johnson in die Downing Street No. 10 im Jahr 2019 und dem darauffolgenden Brexit ist selbst das „Mutterland der Demokratie“ ins Wanken gekommen, mit Donald Trump und Elon Musk driften die Vereinigten Staaten rasant in Richtung Diktatur, und Frankreich ist bisher nur knapp dem Schicksal entgangen, von der Rechtspopulistin Marine Le Pen regiert zu werden. Diese drei Staaten haben nicht nur federführend die westlich geprägte liberale Demokratie entwickelt, sie stehen auch historisch für den Beginn der Menschenrechte. Deshalb ist es sinnvoll, die Ursachen dieses eklatanten Verfalls von Demokratie und Menschenrechten näher unter die Lupe zu nehmen.
Für Thomas Piketty besteht ein kausaler Zusammenhang zwischen dem Ausmaß ökonomischer Ungleichheit (von Einkommen und Vermögen) und dem demokratischen Zusammenhalt von Gesellschaften. Durch eine umfassende Auswertung der historischen Entwicklung von Einkommensdaten in den reichsten Industriestaaten hat er nachgewiesen, dass das Ausmaß der Ungleichheit, gemessen durch den „Gini-Koeffizienten“, in den USA bereits das Ausmaß der Ungleichheit in England vor Ausbruch des 1. Weltkriegs überstiegen habe. Nach der “World’s Billionaires List” von Forbes gab es 1987 140 Dollar-Milliardäre, wobei diese Liste bis 2017 auf 2.000 und Anfang 2025 auf über 3.000 anstieg. Über 900 der reichsten Menschen leben in den USA (Elon Musk, Mark Zuckerberg und Jeff Bezos auf den Plätzen 1 bis 3), mehr als 500 in China und mehr als 200 in Indien. Diese reichsten Menschen besitzen heute mehr als doppelt so viel wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung (etwa 3,5 Milliarden Menschen) zusammengenommen.
Historisch betrachtet ist der Anteil der 10% Reichsten am gesamten Nationaleinkommen (eine der zentralen Messgrößen Pikettys) durch die beiden Weltkriege und die Weltwirtschaftskrise bis 1945 auf unter 35% (im Vergleich zu fast 50% in England vor dem 1. Weltkrieg) gefallen. In der Zeit des Wiederaufbaus zwischen 1945 und 1975 („Les Trentes Glorieuses“) blieb dieser Wert relativ konstant bzw. fiel sogar infolge der Politik der sozialen Marktwirtschaft, inspiriert von der Wirtschaftstheorie von John Maynard Keynes. Um die für eine soziale Marktwirtschaft erforderliche Umverteilung von Einkommen und Vermögen zu erreichen, waren in Europa und den USA in dieser Zeit Erbschafts- und Vermögenssteuern sowie sogar Höchstsätze der Einkommenssteuer von 80 oder 90% üblich. Das war auch die Zeit, in der die Menschenrechte auf internationaler Ebene kodifiziert wurden. Während die bürgerlichen und politischen Rechte die Grundfesten der liberalen Demokratie in völkerrechtlich verbindlicher Weise verankerten, sorgten die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte für die Gewährleistung sozio-ökonomischer Mindeststandards wie soziale Sicherheit, Gesundheit, Bildung und einen angemessenen Lebensstandard. In Schweden, dem Musterland sozialer Demokratie, sank der Anteil der 10% Reichsten am gesamten Nationaleinkommen 1980 sogar auf unter 25%.
Das war die Zeit, in der der „Keynesianische Consensus“ allmählich durch den „Washington Consensus“ verdrängt wurde, also die auf die Chicago School of Economics zurückgehende neoliberale Wirtschaftstheorie von Milton Friedman, deren Wurzeln auch auf den österreichischen Nationalökonomen Friedrich August von Hayek zurückgehen. Die wichtigsten Prinzipien der neoliberalen Wirtschaftstheorie, die im „Washington Consensus“ 1989 auch von der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds übernommen wurden, sind Privatisierung, Deregulierung und die Zurückdrängung der Rolle des Staates zugunsten der Kräfte des Marktes. Was das bedeutet, hatten die „Chicago Boys“ während General Pinochets Militärdiktatur in Chile in den 1970er Jahren sowie Ronald Reagan in den USA und Margaret Thatcher im Vereinigten Königreich in den 1980er Jahren vorexerziert: drastische Senkung der Steuern, Zerschlagung des Sozialsystems, Zurückdrängung des Einflusses der Gewerkschaften, weitgehende Privatisierung staatlicher Unternehmen auch im Bereich der Daseinsvorsorge etc. In den 1990er Jahren war der Neoliberalismus auch in den sozialdemokratischen Parteien zum Mainstream geworden, und die Strukturanpassungsprogramme der internationalen Finanzinstitutionen führten zu einer massiven Zurückdrängung der Rolle des Staates und seiner sozialen Leistungen in den meisten Staaten des Globalen Südens, was auch zum Phänomen von „Failed States“ beitrug. In den Industriestaaten stieg der Anteil der 10% Reichsten am gesamten Nationaleinkommen rapide an und erreichte in den USA Anfang der 2000er Jahre fast 50%, was in etwa der ökonomischen Ungleichheit in England in der Zeit der Hochblüte des industriellen Kapitalismus am Ende des 19. Jahrhunderts entsprach und laut Piketty eine ernsthafte Gefährdung der Demokratie darstellt. Wenn der Wohlstand, so seine Hauptthese, den sich Menschen durch Arbeit während ihres gesamten Erwerbslebens erwirtschaften, in einem krassen Missverhältnis zu dem ererbten Vermögen anderer steht, so sei das mit den Werten der sozialen Gerechtigkeit in modernen demokratischen Gesellschaften nicht vereinbar.
Beflügelt wurde diese Entwicklung durch die Erfindung des Internets und die durch die moderne Informations- und Kommunikationstechnologie vorangetriebene Globalisierung. Sie führte zu einer Deregulierung der globalen Finanzmärkte, zu einer enormen Macht transnationaler Konzerne, zu global organisierter Kriminalität, Steuerflucht und Korruption. Auch wenn das dadurch ermöglichte Wirtschaftswachstum in Ländern wie China und Indien zu einer signifikanten Zurückdrängung der Armut führte, so stieg die ökonomische Ungleichheit gerade in diesen Ländern dramatisch an. Außerdem verschärfte das ungezügelte Wirtschaftswachstum die „triple planetary crisis“, bestehend aus Klimawandel, Verlust an Biodiversität und Verschmutzung von Land, Wasser und Luft, welche das Überleben unseres Planeten ernsthaft gefährdet.
Während die Implosion der kommunistischen Regime in Mittel- und Osteuropa und das Ende des Kalten Kriegs 1989 ein „window of opportunity“ eröffnete, eine wirklich neue Weltordnung beruhend auf friedlicher Zusammenarbeit, nachhaltiger Entwicklung, Demokratie, Rechtsstaat und universell anerkannten Menschenrechten eröffnete, übernahm der „Endsieg des Kapitalismus über den Kommunismus“ schnell das Narrativ eines Sieges von Demokratie und Menschenrechten über Diktatur und Totalitarismus. Auch wenn die These des amerikanischen Historikers Samuel Moyn, die Menschenrechte wären der „Doppelgänger des Marktfundamentalismus“, falsch ist, so wurden Menschenrechte und Demokratie insbesondere in den USA immer wieder dazu missbraucht, die weltweite Durchsetzung ihrer ökonomischen, politischen und militärischen Interessen zu legitimieren. Dabei wurden völkerrechtliche Verpflichtungen wie das Gewaltverbot oder die Einhaltung der Menschenrechte zunehmend missachtet. Ein typisches Beispiel ist der von den USA mit Hilfe des Vereinigten Königsreichs 2003 vom Zaun gebrochene Krieg gegen den Irak, der vor allem den Interessen privater US-amerikanischer Militär-und Sicherheitsfirmen im Umfeld des Vizepräsidenten Dick Cheney diente. Generell hatte der von George W. Bush proklamierte „Krieg gegen den Terror“ das demokratische System der USA mit seinen checks and balances auf eine harte Probe gestellt und das Vertrauen in eine regelbasierte Weltordnung untergraben. Der brutale russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist der vorläufige Höhepunkt dieser fatalen und brandgefährlichen Entwicklung.
Nach den vom Demokratieindex der britischen Zeitschrift Economist berechneten Daten nimmt die Zahl der „vollständigen Demokratien“ kontinuierlich ab, während die Zahl der Diktaturen gleichzeitig steigt. Gemäß des aktuellen Demokratieindexes lebten 2024 nur mehr 7,8% der Weltbevölkerung in einer vollständigen Demokratie (Spitzenreiter sind Norwegen, Neuseeland, die Schweiz und andere skandinavische Staaten, auch Österreich fällt in diese Kategorie), während 39,4% in einem autoritären Regime bzw. einer Diktatur lebten, einschließlich von China, Russland, Ägypten, Iran oder Saudi-Arabien. 45,7% leben in einer „unvollständigen“ Demokratie, wozu auch die USA (noch vor dem 2. Amtsantritt Trumps), Indien, Südafrika, Brasilien, Argentinien, Israel oder Italien zählen. Der Rest der Weltbevölkerung lebt in einer Mischform aus Demokratie und autoritärem Regime, wie z.B. Nigeria, die Türkei, Bosnien und Herzegowina, Georgien, Ukraine oder Rumänien.
Das sind alarmierende Zahlen. Auch in gut funktionierenden Demokratien wie Österreich nimmt die Demokratie- und Politikverdrossenheit zu. Auch hier hat der Neoliberalismus zwar zu mehr Wohlstand, aber auch zu einer wachsenden ökonomischen Ungleichheit und zu einem Abbau staatlicher Daseinsvorsorge geführt. Wir sehen das besonders deutlich im Gesundheitssystem, am Mangel an öffentlich finanzierten Kassenärzt: innen oder Pflegepersonal. Auch das öffentliche Bildungssystem stößt an seine Grenzen. Wer es sich leisten kann, schickt seine Kinder in Privatschulen und weicht in die Privatmedizin aus. Wir hören immer wieder, dass sich der Staat das öffentliche Pensionssystem nicht mehr leisten kann, obwohl schon jetzt die öffentlich finanzierten Pensionen (ohne privat finanzierte Zusatzpensionen) nicht wirklich für ein sorgenfreies Leben im Alter ausreichen. Der Wohnungsmarkt ist so sehr unter Druck, dass sich junge Menschen kaum mehr eine Wohnung oder gar ein Eigenheim leisten können. Diese Entwicklung untergräbt (natürlich) das Vertrauen in den demokratischen Staat als Garant für Menschenrechte und insbesondere soziale Sicherheit. Wenn Menschen dem demokratischen Staat nicht mehr zutrauen, ihre Menschenrechte auf Bildung, Gesundheit, Wohnung, soziale Sicherheit und einen angemessenen Lebensstandard durch entsprechende positive Leistungen zu gewährleisten, dann wird der Staat zu unserem Feind, wie Barbara Blaha kürzlich treffend formuliert hat. Wenn wir die Demokratie stärken und das Vertrauen in die Politik zurückgewinnen wollen, müssen wir den Staat wieder dazu befähigen, die Wirtschaft zu kontrollieren, die ökonomische Ungleichheit durch Umverteilung auf ein erträgliches Maß zu senken und das Bedürfnis der Menschen auf ein friedliches Miteinander sowie auf positive Gewährleistung ihrer bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte zu befriedigen.
Atkinson, Anthony, Inequality – What can be done?, Cambridge/London 2015
Blaha, Barbara, Der Staat als Feind, Profil 13, 29. März 2025, 27
Economist, Democracy Index 2024
Forbes, World Billionaires List 2025
Freedom House, Freedom in the World
Judt, Tony, Dem Land geht es schlecht: Ein Traktat über unsere Unzufriedenheit, München 2010
Moyn, Samuel, The Last Utopia: Human Rights in History, Cambridge 2010
Nowak, Manfred, Menschenrechte – Eine Antwort auf die wachsende ökonomische Ungleichheit, Wien/Hamburg 2015
Nowak, Manfred, Human Rights or Global Capitalism – The Limits of Privatization, Philadelphia 2017
Piketty, Thomas, Capital in the Twenty-First Century, Cambridge/London 2014
Manfred Nowak ist Univ.-Prof. für Menschenrechte, Vorstandsmitglied des Wiener Forums für Demokratie und Menschenrechte, Leiter des Vienna Master of Arts in Human Rights an der Universität Wien, Generalsekretär des Global Campus of Human Rights in Venedig, Co-Gründer und Co-Direktor des Ludwig Boltzmann Instituts für Menschenrechte (BIM) 1992–2019
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Demokratischer Zusammenhalt Globalisierung Neoliberalismus Ökonomische Ungleichheit Politikverdrossenheit Populismus Umverteilung
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