Am Beispiel Ungarns: Demokratieabbau erfolgt nicht durch Putsch, sondern durch schrittweisen Umbau. Es ist die Verantwortung von Medien, Zivilgesellschaft und Opposition, diesen Prozessen frühzeitig entgegenzutreten, bevor die demokratischen Grundfesten, auch in Österreich, irreversibel beschädigt werden.
Seit seiner Rückkehr an die Macht im Jahr 2010 hat Viktor Orbán Ungarn schrittweise von einer liberalen Demokratie in ein autoritäres System mit demokratischem Anstrich verwandelt. Seine selbstdefinierte „illiberale Demokratie“ beruht auf einem Netzwerk aus machtpolitischer Kontrolle über Medien, Justiz, Zivilgesellschaft und ökonomischer Infrastruktur. Dieses Modell wurde über Jahre hinweg systematisch aufgebaut – in einer Weise, die in Europa ihresgleichen sucht.
Besorgniserregend ist, dass dieses Modell zunehmend Nachahmer findet. Auch in Österreich zeigten Entwicklungen unter der türkisen ÖVP sowie der FPÖ seit Jahren Überschneidungen mit Orbáns Vorgehensweise.
Das ungarische Beispiel hat nicht nur akademische oder mediale Relevanz, sondern wirkt politisch konkret: Durch wiederholte Aufwertung Orbáns innerhalb bürgerlich-konservativer und rechter Diskurse wurde sein System zunehmend salonfähig – auch in Westeuropa. Orbán zeigt, wie ein autoritärer Umbau unter Beibehaltung formeller demokratischer Strukturen gelingen kann. Gerade in Österreich, wo mediale Konzentration, Parteibindungen und institutionelle Schwächen (z. B. geringe Ressourcen für unabhängige Behörden) ohnehin ausgeprägt sind, bietet dieses Modell gefährliche Anknüpfungspunkte.
Während heutzutage Herbert Kickl (FPÖ) offen illiberale Positionen vertritt und auf eine autoritäre Sicherheits- und Souveränitätspolitik abzielt, hatte auch Karl Nehammer (ÖVP) Elemente autoritärer Governance übernommen, etwa durch Law-and-Order-Rhetorik, sicherheitspolitische Initiativen und eine Betonung nationalstaatlicher Prioritäten. Beide Strategien verschieben den demokratischen Diskursrahmen und erzeugen eine Konvergenz von Positionen, die klassische Grenzen zwischen Demokratie und Autoritarismus aufweichen. Diese Entwicklung steht exemplarisch für eine globale Tendenz zur Systemhybridisierung, in der technokratische Steuerung, populistische Narrative und demokratische Legitimationsmechanismen koexistieren. Aber es begann schon früher.
Nach 2010 hat Orbán in Ungarn gezielt kritische Medien marginalisiert und ein regierungsfreundliches Medienimperium aufgebaut. Österreich erlebte unter Sebastian Kurz eine ähnliche Tendenz, wenn auch subtiler. Die sogenannte „Message Control“ wurde zu einem Markenzeichen der türkis geführten ÖVP.
Der „Ibiza-Skandal“ zeigte in erschreckender Offenheit, wie FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache plante, die „Kronen Zeitung“ aufzukaufen, um eine „mediale Landschaft wie Orbán“ zu schaffen. Später kamen Ermittlungen wegen mutmaßlicher Inseratenkorruption ans Licht: Medien sollen im Austausch für wohlwollende Berichterstattung mit staatlichen Werbegeldern versorgt worden sein. Ein Prinzip, das in Ungarn zur systematischen Ausgrenzung kritischer Medien dient.
Ein zentrales Element in Orbáns Machtkonsolidierung war die politische Kontrolle der Justiz. Das Verfassungsgericht wurde mit loyalen Richtern besetzt, die richterliche Unabhängigkeit systematisch eingeschränkt.
Auch in Österreich kam es unter der türkis-blauen Koalition zu massiven Angriffen auf die Justiz. Kurz bezeichnete die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) mehrfach als Teil eines „roten Netzwerks“ – ein Ausdruck, der die Glaubwürdigkeit unabhängiger Ermittlungen untergraben sollte.
Innenminister Herbert Kickl (FPÖ) versuchte 2018, die BVT-Razzia zu nutzen, um Kontrolle über das Verfassungsschutzsystem zu erlangen – ein klarer Versuch, die Gewaltenteilung zu untergraben.
Orbán veränderte das ungarische Wahlsystem 2011 drastisch: neue Wahlkreise, Abschaffung der Stichwahl, Übergewichtung ländlicher Gebiete. Das Ergebnis war ein stark disproportionales System zugunsten von Fidesz.
In Österreich wurden ebenfalls Stimmen laut, das Wahlrecht zu reformieren. Die FPÖ sprach von einer Reduktion der Nationalratsmandate (wie in Ungarn). Auch die Diskussion um angeblich betrugsanfällige Briefwahlen erinnert an Orbáns Versuch, Wahlbeteiligung zu steuern und kritische Wähler:innenschichten auszuschließen.
Ungarns Zivilgesellschaft wurde durch das sogenannte „Stop Soros“-Gesetz faktisch kriminalisiert. NGOs mit ausländischer Unterstützung mussten sich registrieren und wurden öffentlich stigmatisiert. Sie stehen durch das verabschiedete „Souveränität-Gesetz“ mit den noch übriggebliebenen freien Medien, Akademiker:innen und Universitäten unter enormen Druck.
Auch in Österreich wurden NGOs – insbesondere im Migrationsbereich – von der FPÖ wiederholt attackiert. Innenminister Kickl warf der Caritas vor, ein „Teil des Problems“ zu sein. Die ÖVP übernahm zunehmend die Rhetorik der „linken Aktivistenszene“, um kritische Stimmen zu diskreditieren – etwa beim UN-Migrationspakt, den Österreich als eines der wenigen westlichen Länder nicht unterzeichnete.
In beiden Ländern wird Migration als zentrales Feindbild stilisiert. Orbán baute 2015 Zäune an der ungarischen Grenze und bezeichnete Migrant: innen als „Invasoren“. Sebastian Kurz reklamierte 2018 für sich, „die Mittelmeerroute geschlossen zu haben“.
Die FPÖ, insbesondere Kickl, forderte „Asyl auf null“ und verknüpfte Migration regelmäßig mit Kriminalität, Islamismus und Sozialmissbrauch – eine direkte Übernahme von Orbáns Sprachmustern. Auch das Narrativ von einer „globalistischen Elite“, die Europa mit Migrant:innen „überschwemmen“ wolle, taucht bei beiden Parteien regelmäßig auf.
Seit 2010 nutzte Orbán seine 2/3-Mehrheit, um 15 Verfassungsänderungen durchzusetzen – darunter Regelungen, die selbst nach einem Machtwechsel das System zugunsten von Fidesz erhalten.
In Österreich wurden während der türkis-blauen Phase Stimmen laut, man müsse das politische System „modernisieren“ – mit einem neuen Grundgesetz, einer Reform des Bundesrates oder einer „Entmachtung der Bürokratie“. Auch wenn konkrete Schritte ausblieben, zeigt sich hier ein klarer struktureller Wille, das institutionelle Gleichgewicht zu verändern – ähnlich wie in Ungarn.
Die persönliche Nähe zwischen Orbán und Teilen der österreichischen Rechten ist gut dokumentiert. Kurz traf Orbán mehrfach auf EU-Gipfeln mit auffallender Herzlichkeit, auch wenn er sich offiziell von der „illiberalen Demokratie“ distanzierte. Gleichzeitig übernahm seine ÖVP zahlreiche Positionen aus der ungarischen Rhetorik – etwa zum Thema Souveränität, nationaler Identität und Ablehnung liberaler Eliten.
Die FPÖ hingegen ging noch weiter: Sie bezeichnete Orbán mehrfach als „Vorbild“, nahm regelmäßig an den Budapest Summits der rechtsnationalistischen Bewegung teil (u. a. CPAC Hungary), und baute enge Beziehungen zur Fidesz-Partei auf. Herbert Kickl betont regelmäßig die Notwendigkeit einer „Festung Österreich“ und eines „patriotischen Aufstands“, ganz im Sinne Orbáns.
Orbáns illiberales Modell ist keine bloß theoretische Bedrohung – es wird konkret imitiert, rhetorisch legitimiert und strategisch übernommen. Die Demokratie in Österreich ist zweifellos robuster als jene in Ungarn – mit unabhängigen Medien, kritischer Zivilgesellschaft und einem funktionierenden Parlamentarismus. Doch all dies steht unter Druck, wenn politische Kräfte wie ÖVP und FPÖ schleichend systemkritische Institutionen aushöhlen, den öffentlichen Diskurs polarisieren und strukturelle Reformen im Sinne von Machtsicherung anstreben.
Die Lektion aus Ungarn lautet: Demokratieabbau erfolgt nicht durch Putsch, sondern durch schrittweisen Umbau. Es ist die Verantwortung von Medien, Zivilgesellschaft und Opposition, diesen Prozessen frühzeitig entgegenzutreten – bevor die demokratischen Grundfesten, auch in Österreich, irreversibel beschädigt werden.
Dr. habil. István Grajczjár, ist Leiter des Lehrstuhls für Internationale- und Politische Studien an der Milton Friedman Universität, Budapest, und Lehrbeauftragter an der Universität Wien. Seine Hauptforschungsgebiete umfassen gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungen und Krisen, Solidarität, politischen Populismus und Radikalismus sowie die Erforschung des Antisemitismus.