Die Herausforderung besteht darin, genauer hinzusehen, nicht in Freund-Feind-Lagern zu denken und zu argumentieren, auch wenn viele Diskussionen derzeit den Eindruck erwecken, die Gesellschaft sei bei vielen Themen gespalten. Innerhalb der vermeintlichen Spaltung finden sich zahlreiche Nuancen, innerhalb vermeintlich homogener Gruppen findet sich nach wie vor eine Vielzahl an Meinungen. Diese aus dem Streit, der wirkt, als hätte ihn ein Twitter-Algorithmus geschaffen, wieder herauszudenken hin zu einer Diskussion, die eine Vielzahl von Perspektiven ertragen kann, das ist die demokratische Aufgabe der Zukunft.
Sanfte Radikalität, das ist für mich die Entscheidung, eine Idee oder ein Projekt wirklich in die Welt zu bringen, statt Radikalität nur dafür zu nutzen, jene anzuprangern, die anders denken. Wer Wandel will, muss jene finden und gewinnen, die für eine Sache zu begeistern sind, statt auf Radikales mit derselben Art von Radikalität zu antworten. Das bedeutet nicht, schwächer zu sein, sich übergehen zu lassen, es bedeutet lediglich, dass Zustände, die sich verändern sollen, nicht besser werden können, wenn die Menschen, die sie verbessern wollen, auf dem Weg dorthin ihre Werte und ja, ihre Sanftmut verlieren.
Aber mit der Zeit stellte sich heraus, oder zumindest ich musste feststellen, dass Bewegung nicht entsteht, weil man sie laut schreiend fordert, sondern weil man leise, aber beharrlich Erlebnisse und Räume schafft, die das Denken verändern und insbesondere das Vertrauen in die Veränderbarkeit der Umstände, in denen man lebt. Je handlungsfähiger ich und die Menschen, mit denen ich Ideen umsetzen durfte, wurden, desto mehr entfernte ich mich von der diskursiven Radikalität, die heute oft den Ton bestimmt, gerade auch bei vielen meiner Generation, die sich für Demokratie und Menschenrechte einsetzen, die sogenannte Gesellschaft vor allem durch Diskurse, Debatten und Diskussionen wahrnahmen und zu beeinflussen versuchten. Für manche wurde ein Hot Take wichtiger als der Langzeiteffekt ihrer Gedanken und der daraus erwachsenden Handlungen.
Der faktenbasierte Diskurs wird meist entlang der klassischen Kunst der Rhetorik geführt, es geht um das bessere Argument, das schließlich gewinnt. Natürlich ist das ein erprobtes und unverzichtbares Instrument für den Diskurs in demokratischen Gesellschaften, nur was, wenn wir in einer Zeit Leben, in der die Werte zunehmend so breit ausdifferenziert sind, dass die Idee des stärkeren Arguments keine Lösungen mehr bringen kann, sondern in den Stillstand führt? Geht man von der Gleichwertigkeit von Argumenten aus, von der Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Wertesysteme, bedarf es vielmehr ausgefeilter Techniken für die Aushandlung von Problemen und Herausforderungen. Gleichwertig, gleichzeitig und gegensätzlich kann sonst in die Stagnation führen, weil die Diskursteilnehmer von derart unterschiedlichen Werten auf das Problem blicken, dass es nicht mehr zum Konsens kommen kann. Es geht also erneut um das SEHEN: In einer pluralen Gesellschaft ist die Vorstellung, »das bessere Argument« gewinnt, eine frustrierende, weil sich die Einzelnen und Gruppen so ausdifferenziert haben und das bessere Argument noch stärker als in pluralen Gesellschaften ohnehin zu einer Frage der Perspektive wird. Das Phänomen ist natürlich nicht neu, das Bewusstsein darüber sollte jedoch angesichts einer vielfältigen Gesellschaft bei Lösungsprozessen stärker in den Mittelpunkt rücken. Es wird immer weniger darum gehen, wer das bessere Argument hat, sondern darum, wie angesichts der Gleichzeitigkeit mehrerer als gleichwertig gut anzusehender Argumente ein Dialog geführt werden kann, der Bürgerinnen und Bürger unterschiedlicher Perspektiven dennoch zusammen zu bringen vermag, sie im besten Fall dazu bringt, für die Zukunft an einer gemeinsamen Sache zu arbeiten. Die Robustheit unserer Demokratie, die Fähigkeit, sie zu erneuern, überprüft man nicht mehr nur daran, ob es gelingt, einen faktenbasierten Diskurs zu führen (diesem Thema wird derzeit zu Recht in der demokratischen Bildung viel Aufmerksamkeit geschenkt, weil er die Basis des Redens über die Wirklichkeit gefährdet). Es geht jedoch darüber hinaus auch darum, wie gekonnt eine Gesellschaft Modelle entwickelt, die mit den Spannungen dieses Diskurses umgehen, wenn Bürger und Einwohner eines Landes angesichts und trotz derselben Fakten zu gänzlich anderen Schlüssen gelangen. Wie lernfähig bleibt der Einzelne und geht es ihm im Diskurs um die Dominanz seiner eigenen Positionen oder um die Lernerfahrung, eine Vielheit von Positionen kennenzulernen, mit dem Ziel, im Einklang zu koexistieren? Meine nüchterne Bilanz nach über zehn Jahren inmitten dieser Diskussionen: Die meisten sind nicht in der Lage, diese Ambiguität auszuhalten. Das Bedürfnis nach Eindeutigkeiten führt zu Verhärtungen, die Diskussionen schwieriger machen.
Da ich in Heidelberg ein Haus [das Interkulturelle Zentrum] gründen wollte für alle, musste ich lernen, so zu reden, dass ich möglichst viele Menschen überzeuge, statt sie zu belehren oder zu beschimpfen. Wenn ich Interviews gab und einige im aktivistischen Netzwerk sie lasen, bekam ich oft gesagt, das sei ja alles schön und richtig, aber ich sei zu moderat, ich haue nicht richtig drauf auf die Mehrheitsgesellschaft. Ich sagte, ich würde auch lieber erst einmal beschreiben, was ich sehe oder für möglich halte und hätte auch Teile der sogenannten Mehrheitsgesellschaft gerne in meiner Mannschaft, trotz aller Gegensätzlichkeiten, wenn ich etwas in einer Stadt aufbauen will. Viele waren der Meinung, es ging nur das eine oder das andere. Das war der Moment, in dem ich verstand, dass ich mit meinem Ansatz der sanften Radikalität nach Verbündeten in anderen Bereichen der Gesellschaft suchen musste.
Ein Mann, der mich zu Beginn des Projekts beschimpft hatte, ich würde hier doch eine Migrantenschrotthalde gründen, kam immer wieder zu den Veranstaltungen und wurde am Ende einer der Unterstützer des Projekts. Demokratische Werte bedeuten eben auch, das auszuhalten, was man ablehnt. Es wurde zu meiner Form der Radikalität, in der alltäglichen Arbeit nicht unversöhnlich zu werden, wenn solche Aussagen wie die mit der Migrantenschrotthalde fielen, sondern gerade jene, die solche Vorbehalte hatten, anzusprechen, weil sonst ein Projekt, das ich aufbauen wollte, um einen Raum für Verständigung und Gleichzeitigkeit von Differenzen zu schaffen, sofort in ein »Wir gegen Die« mutieren würde.
Die Diskurskompetenz aller sollte gestärkt werden, mit den Reflexen der letzten Jahre werden wir den Krisen jedoch nicht gerecht werden können. Es braucht eine Diskussionskultur um das Thema Identität, die über Streitreflexe hinausgeht, die Fähigkeit, nicht nur das Label wie »Woke« oder »Anti-Woke« anzuheften oder eben Kritiker sofort rechtsaußen zu verorten. Die Herausforderung besteht darin, genauer hinzusehen, nicht in Freund-Feind-Lagern zu denken und zu argumentieren, auch wenn viele Diskussionen derzeit den Eindruck erwecken, die Gesellschaft sei bei vielen Themen gespalten. Innerhalb der vermeintlichen Spaltung finden sich zahlreiche Nuancen, innerhalb vermeintlich homogener Gruppen findet sich nach wie vor eine Vielzahl an Meinungen. Diese aus dem Streit, der wirkt, als hätte ihn ein Twitter-Algorithmus geschaffen, wieder herauszudenken hin zu einer Diskussion, die eine Vielzahl von Perspektiven ertragen kann, das ist die demokratische Aufgabe der Zukunft. Dabei hilft es nicht, sich in seiner Radikalität von seiner Blase oder wie es früher hieß, peer-group, bestätigen zu lassen; was hilft, ist sich in Frage zu stellen und trotzdem die demokratischen Werte nicht in Frage zu stellen, sie in jeder Diskussion aufs Neue hin zu überprüfen und eine Antwort zu suchen, die der Problemlage zumindest vorübergehend gerecht werden könnte.
Es wird neue Begriffe und Haltungen brauchen, um diese Offenheit im Diskurs auszuhalten. Die letzten Jahrzehnte waren geprägt von einem binären Denken: hier die Mehrheitsgesellschaft, dort die Eingewanderten. Einige sagen postmigrantische Gesellschaft zu unserer Art Gesellschaft, die maßgeblich auch von Migration geprägt ist. Ich vermeide diesen Begriff, da er leicht Missverständnisse erzeugt, da historisch gesehen Migration eher ein Normalzustand war und Gesellschaften immer auch durch Migration geprägt waren, selbst in den Phasen, die manche für homogener erachten. Gleichzeitig möchte ich mit solchen Begriffen, deren akademische Bedeutung nicht vielen geläufig ist, nicht für falsche Bilder sorgen: Nach wie vor hat der Großteil der Menschheit nie ihr Geburtsland verlassen. Nur 3,6 Prozent der Weltbevölkerung lebte im Jahr 2020 außerhalb des Landes, in dem sie geboren wurden – und doch verändern sich die Städte in einer Geschwindigkeit, mit der viele Bürgerinnen nicht zurecht zu kommen scheinen. Gerade die Städte werden entscheiden, wie erfolgreich ein Land mit seinen Veränderungen wird umgehen können, das zeigte sich nicht nur 2015, als einzelne Städte öffentlich darum baten, mehr Geflüchtete aufnehmen zu dürfen, weil sie eben in der Lage dazu seien. Gleichzeitig entscheiden oft ländliche Regionen, die mit der diversen Lebensrealität nicht konfrontiert sind, dass sie das Leben in Städten für ihr Land nicht erstrebenswert finden – es wird also auch um die Vernetzung zwischen Stadt und Land gehen, um die Frage, wie sich Wissen transferieren ließe.
Ich wollte Veränderung, verstand nur allmählich, was es bedeutete, wenn es heißt, in einer Demokratie braucht es Mehrheiten. Natürlich kann man die Mehrheit beschimpfen, den Applaus von den Gleichgesinnten hat man sicher – die politische Mehrheit in den zentralen Gremien und Räten vermutlich eher selten. Sanfte Radikalität nannte ich mein stilles, aber beharrliches Arbeiten an einem Wandel in meiner Stadt vor Ort. Nicht die großen Schrauben drehen, sondern den Alltag der Menschen, die mich umgaben und das Leben in meiner Stadt gestalteten – oder noch nicht gestalteten und von mir eingeladen wurden, es plötzlich zu tun.
Wer also von der Demokratie als beste Staatsform spricht, was angesichts der Vergleichsmodelle stimmt, muss über andere Beteiligungsformate nachdenken als Erregungsdiskurse. Jenseits der Probleme, die jene darlegen, die sich mit Fake News und Algorithmen beschäftigen, fehlt vielen im Alltag eine spürbare Erfahrung, weshalb das Leben in einer Demokratie lebenswerter ist als in anderen Staatsformen.
Jagoda Marinić ist Schriftstellerin, Publizistin, Podcasterin und Kolumnistin für den Stern und eine der aktuell einflussreichsten Stimmen der deutschen Medienlandschaft. Sie publizierte international bereits in der New York Times, ist Host des erfolgreichen ARD-Podcasts FREIHEIT DELUXE und wurde für die Moderation ihres arte-Talks Das Buch meines Lebens für den Grimme-Preis nominiert. Zehn Jahre lang baute sie als Kultur managerin das Interkulturelle Zentrum in Heidelberg auf, bevor sie 2023 die Leitung des Internationalen Literaturfestivals Heidelberg übernahm.