Ein funktionierender demokratischer Rechtsstaat kann Bedrohungen mit eigenen Mitteln entgegentreten. Seine Selbstheilungsmechanismen stoßen aber dort an Grenzen, wo seine Institutionen gezielt und anhaltend angegriffen werden. Hier können Europarat und EU Positives leisten. Dabei müssen diese aber auf die Wahl ihrer Instrumente achten und sind auf die aktive Mitarbeit innerstaatlicher Akteure angewiesen, da sie sonst auch kontraproduktiv wirken können. Die im Folgenden vorgestellten Aspekte dieser Analyse basieren auf den Ergebnissen einer längeren Studie.
Die politischen Entwicklungen des vergangenen Jahrzehnts gefährden zunehmend Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Europa. In Österreich wurde mit der FPÖ im Herbst vergangenen Jahres eine Partei zur stärksten parlamentarischen Kraft, deren Obmann öfters den Grundsatz bekräftigte, „dass das Recht der Politik zu folgen hat und nicht die Politik dem Recht.“ In den anschließenden Koalitionsverhandlungen forderte die FPÖ unter anderem massive Einschnitte in das Versammlungsrecht, den Vorrang von nationalem Recht vor der Rechtsprechung europäischer Gerichtshöfe, und die direkte Finanzierung des öffentlichen Rundfunks durch das Bundesbudget. Dieser Ausschnitt aus dem ideologischen Programm der FPÖ und das nur knappe Scheitern der Regierungsverhandlungen mit der zweitgrößten Partei zeigen, dass der Rückbau der rechtsstaatlichen repräsentativen Demokratie, wie ihn Regierungen in Ungarn, Polen, und der Slowakei jahrelang vorangetrieben haben, auch in Österreich eine reale Gefahr darstellt.
Wie können Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gegenüber dieser und anderer Bedrohungen resilient sein? Stephan Stetters prägnante Definition von Resilienz – „stay the same by changing“[1] – liefert den Beginn einer Antwort: Der demokratische Rechtsstaat kann Gefahren durchaus aus sich selbst heraus entgegentreten. Aber er muss auch ständig an sich arbeiten und sich verändern, um seine Grundsätze zu bewahren.
In Europa haben der Europarat und die Europäische Union regionale Strukturen herausgebildet, die ihre Mitgliedstaaten deutlich resilienter gegen Angriffe auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu machen vermögen. Dabei müssen diese aber auf die Wahl ihrer Instrumente achten und sind auf die aktive Mitarbeit innerstaatlicher Akteure angewiesen, da sie sonst auch kontraproduktiv wirken können. Die im Folgenden vorgestellten Aspekte dieser Analyse basieren auf den Ergebnissen einer längeren Studie.[2]
Diesen Ergebnissen liegt ein dichtes Konzept von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zugrunde. Dieses umfasst einerseits strukturelle Aspekte wie Wahlen, eine unabhängige Gerichtsbarkeit, und eine Gewaltenteilung sowohl zwischen Organen (horizontal) als auch zwischen verschiedenen Verwaltungsebenen wie in Österreich Bund, Ländern, und Gemeinden (vertikal). Darüber hinaus umfasst die dichte Rechtsstaatlichkeit auch materielle Aspekte wie Menschen- und Minderheitenrechte. Diese materiellen und strukturellen Aspekte ergänzen und stützen sich gegenseitig. Ein Beispiel: Das formell freie und gleiche Wahlrecht kann sein ganzes Potenzial nur ausschöpfen, wenn im Vorfeld die Meinungs- und Versammlungsfreiheit eine freie Willensbildung ermöglichen. Umgekehrt hängt die Durchsetzung dieser Grundrechte von der Existenz unabhängiger Gerichte ab. Hieraus fließt eine bereits eingangs beschriebene große Stärke des demokratischen Rechtsstaats: die Fähigkeit, sich aus sich selbst heraus zu schützen.
Aber der Rechtsstaat kann auch so stark belastet werden, dass seine Selbstheilungsfähigkeiten nicht mehr ausreichen, wie zB über das vergangene Jahrzehnt in Ungarn und Polen ersichtlich war. Aus diesem Grund stehen am Anfang eines demokratischen Rückbaus auch oft Angriffe auf zentrale Bausteine der „Immunsysteme“ von Demokratien, wie Gerichte, Ombudsinstitutionen, Medien, und Universitäten. Auch in Österreich lassen sich diese Entwicklungen in mehr als in Ansätzen nachweisen. So greift die FPÖ in den vergangenen Jahren verstärkt die Arbeit unabhängiger Gerichte und des öffentlichen Rundfunks an.
Hier können Europarat und EU Positives leisten. Einerseits durch die Setzung und Präzisierung von Standards. Hier ist vor allem der Europarat maßgebend: Durch die Europäische Menschenrechtskonvention, ihre Zusatzprotokolle sowie weitere Menschenrechtsschutzinstrumente wurden die Menschenrechte in Europa seit den 1950er Jahren entschieden ausgestaltet. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat die darin enthaltenen Rechte über Jahrzehnte präzisiert. Die sogenannte Venedig-Kommission hat darüber hinaus spezifische Standards für strukturelle Aspekte von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit weiter ausdefiniert.
Die Grundsatzdokumente der EU, welche ihren Ursprung als wirtschaftliche Integrationsorganisation hatte, sind in den vergangenen Jahrzehnten um zentrale Aspekte der Rechtsstaatlichkeit erweitert worden. So statuiert nun Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union als Grundwerte „die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören.“ Seit den 1990er Jahren muss jeder Beitrittskandidat die Achtung dieser sogenannten Kopenhagener Kriterien nachweisen, um in die Union aufgenommen zu werden.
Was passiert jedoch, wenn Staaten nach ihrer Aufnahme in die EU den Rechtsstaat zurückbauen? Dieses als „Kopenhagener Dilemma“ bekannte Problem hat die EU bis heute nicht vollständig gelöst. Über lange Zeit gab es gar keine Möglichkeit der Durchsetzung rechtsstaatlicher Standards innerhalb der EU. Nach drei Jahrzenten an „Trial and Error“, vor allem im Umgang mit Österreich, Ungarn, und Polen, verfügt die EU heute über eine breite Palette an Instrumenten:
Der Europarat verfügt mit dem EGMR von Beginn an über ein Organ zur Überwachung der Menschenrechte. Da der Europarat allerdings nicht so eng integriert ist wie die EU, fallen die Durchsetzungsmöglichkeiten deutlich schwächer aus. Trotzdem war der EGMR vergleichsweise erfolgreich und konnte seine Rechtsprechung in die innerstaatlichen Gerichte „exportieren“. Dies funktioniert einerseits durch die Belohnung gut funktionierender Gerichtssysteme, denen der EGMR grundsätzlich mehr Ermessensspielraum gibt (die sogenannte reasonable courts doctrine). Andererseits unterhält der EGMR seit längerem Austauschprogramme für nationale Justizbeamte, welche als MultiplikatorInnen die europäischen Menschenrechte in die Mitgliedstaaten zurücktragen sollen.
Ein Übermaß an Überwachung und Sanktionierung „von Außen“ kann allerdings kontraproduktiv wirken, wie im Fall der nach der erstmaligen Regierungsbeteiligung der FPÖ im Jahr 2000 von den restlichen EU-Staaten gegen Österreich verhängten Maßnahmen. Der von den EU-Staaten damals in Auftrag gegebene Weisenbericht empfahl damals die Einstellung der Maßnahmen, denn diese hätten „nationalistische Gefühle im Land geweckt, da sie in manchen Fällen fälschlicherweise als Sanktionen verstanden wurden, die sich an österreichische Bürger richten.“ Diese Effekte dieses „Interventionsparadoxons“ schaden damit der Resilienz der Rechtsstaatlichkeit, da sie die Debatte ablenken, die Popularität der betreffenden Regierung steigern, und so Maßnahmen zum Rückbau des Rechtsstaats sogar noch vereinfachen.
Die Wirkkraft von Europarat und EU allein als „Äußere Akteure“ gegenüber zielgerichtet autokratisch motivierten Regierungen ist daher wohl begrenzt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass ihre Instrumente wirkungslos sind. Erstens können sie vorbeugend wirken. So lassen sich einige der weitreichendsten institutionellen Rechtsstaats-Reformen der letzten Jahrzehnte in Österreich auf Anstöße durch Europarat und EU zurückführen: So die Einführung einer unabhängigen Verwaltungsgerichtsbarkeit, die Reform der Datenschutzbehörde, die Aufhebung des öffentlich-rechtlichen Rundfunkmonopols, und nicht zuletzt die jüngst wieder angestoßene Reform der Weisungsspitze der Staatsanwaltschaften. In Österreich funktioniert auch die Einbindung innerstaatlicher Gerichte als Erfüllungsgehilfen bzw. Partner der europäischen Gerichte vergleichsweise gut. So zitiert der Verfassungsgerichtshof (VfGH) laut seinem Präsidenten Christoph Grabenwarter „[w]ie kaum ein anderes Verfassungsgericht in Europa […] seit Jahren Straßburger Urteile und er folgt ihnen im Fall vergleichbarer Sachverhalte in 99 % der Fälle.“ Seit 2012 können sich Einzelpersonen darüber hinaus vor dem VfGH auf die EU-Grundrechtecharta berufen.
Über die formal-rechtliche Ebene hinaus wirkt aber vor allem die Standardsetzung durch die europäischen Expertengremien diskursbildend in der Herausbildung einer Menschenrechtskultur. Akteure der Zivilgesellschaft und lokale und regionale Gebietskörperschaften können so an spezifische Standards anknüpfen und Menschenrechte in die gesellschaftliche Debatte tragen. Vor allem Entscheidungen des EGMR sowie in den letzten Jahren vermehrt die Rechtsstaatlichkeitsberichte der EU-Kommission spielen hier eine zentrale Rolle.
Die über diesen weicheren Formen des Einflusses drohend schwebenden, nun vor allem in der EU möglichen, härteren Sanktionen können dabei ergänzend wirken. Wie oben beschrieben kann der Einsatz etwa finanzieller Sanktionen oder eines Artikel 7-Verfahrens durch das Interventionsparadoxon kontraproduktiv wirken. Trotzdem können sie durch die bloße Möglichkeit ihrer Anwendung Spielraum schaffen, um wichtige Institutionen des demokratischen Rechtsstaats vor Bedrohungen zu schützen und damit auch die rechtsstaatliche Selbstheilungskraft zu stärken. Denn letztlich kann und muss die Resilienzbildung von Akteuren aus dem Staat und der Gesellschaft selbst kommen. Europarat und EU können diese ergänzen, aber nicht ersetzen.
[1] Stephan Stetter, Understanding Resilience And How It Matters in (International) Conflicts & the Israeli-Palestinian Arena, Working Paper commissioned by the Bundeszentrale für Politische Bildung (BpB), 4.
[2] Christina Binder & Fritz Kainz, ‚Der Europarat und die EU als Hüter der österreichischen Verfassungsstaatlichkeit‘ (2025) ## ZÖR ##.
Christina Binder ist Professorin für internationales Recht und internationalen Menschenrechtsschutz an der Universität der Bundeswehr München. Zuvor lehrte sie als Professorin für Völkerrecht an der Universität Wien. Sie ist Mitglied im Rat des Global Campus for Human Rights, Vorstandsmitglied des Wiener Forums für Demokratie und Menschenrechte sowie Rechtsberaterin für Wahlmissionen der OSZE/ODIHR, der EU und den Europarat. Zudem ist sie Mitherausgeberin mehrerer Fachzeitschriften.
Fritz Kainz ist Universitätsassistent an der Abteilung für Völkerrecht und Internationale Beziehungen der Universität Wien. Er studierte Rechtswissenschaften und Geschichte an der Universität Wien und der University of Virginia. Berufliche Erfahrung im Bereich der Menschenrechte sammelte er unter anderem am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und bei der Volksanwaltschaft.
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