Ausgehend vom zentralen Begriff der gleichen Würde aller Menschen, stellen die Menschenrechte ein System fundamentaler Werte und Regeln dar, um ein Leben in Würde für alle zu gewährleisten. Allerdings werden menschenrechtliche Positionen im Zuge des Erstarken rechtspopulistischer Bewegungen und ihrer Instrumentalisierung der Angst immer stärker zurückgedrängt. Welche Strategien braucht es, um diesen besorgniserregenden Entwicklungen entgegen zu wirken?
Vortrag beim Kongress der Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse am 30.4.2023; veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der GLE. Ursprünglich veröffentlicht in: Existenzanalyse, Jg. 40, Heft 2 (2023).
Das Thema „Angst als existentielle Herausforderung“ ist aus menschenrechtlicher Perspektive besonders dringlich. In welcher Weise können Menschenrechte dazu beitragen, gesellschaftliche, politische und rechtliche Bedingungen so zu gestalten, dass mit Ängsten konstruktiv umgegangen werden kann bzw. diese minimiert werden können? Bewähren sie sich auch in den gegenwärtigen Krisenzeiten einer polarisierten Gesellschaft, in denen mit Angst Politik gemacht wird? Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte aus 1948 spricht explizit von der „Freiheit von Furcht und Not“, die die Menschenrechte gewährleisten sollen. Mein Beitrag[1] stellt zunächst kurz zentrale Gedanken und analytische Konzepte der Menschenrechte vor, um aus dieser Perspektive einige tentative Antworten auf die aufgeworfenen Fragen zu geben.
Vorab halte ich es aber für wesentlich, einiges zum Standort zu sagen, von dem aus ich auf das Thema blicke. Konstruktivistisch gesehen sind nämlich alle „Gesichtspunkte (sind) Ansichten von einem bestimmten Standort, von einer bestimmten Position im sozialen Raum aus“. (Bourdieu 1992, 143). Das ständige Bewusstsein für die eigene Standortgebundenheit und die damit einhergehende Selbstreflexion scheinen mir zentral. Es gibt keine „objektive“ Sicht.
Meine Sicht auf unser Thema ist durch meine berufliche Praxis geprägt: Ich arbeite seit rund 35 Jahren im Menschenrechtsfeld – als Aktivist, Berater, Trainer, Universitätslektor. Seit kurzem manage ich das akademische Programm im Vienna Master of Arts in Applied Human Rights an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Meine Haupttätigkeitsfelder sind: Polizei und Menschenrechte, Überprüfung von Orten des Freiheitsentzugs, v.a. Gefängnisbesuche, sowie Wirtschaft und Menschenrechte. Diese Tätigkeit findet weltweit statt (z.B. Brasilien, Marokko und Jemen). Um größere praktische Wirksamkeit zu erzielen bzw. um praktische Umsetzungsfragen besser zu verstehen, habe ich mich in andere akademische Disziplinen eingearbeitet. Als besonders hilfreich haben sich hierfür soziologische, psychologische und systemische Ansätze erwiesen. Im Folgenden erläutere ich die Frage, welchen Beitrag Menschenrechte in einer polarisierten Welt leisten können, als Menschenrechtsaktivist und -praktiker.
Die menschliche Würde stellt die zentrale Kategorie der Menschenrechte dar. Sich der eigenen Würde und Rechte bewusst zu sein, ermächtigt, individuell und kollektiv. „Das Gefängnis und die Behörden haben sich verschworen, jeden Mann seiner Würde zu berauben. Das an sich verbürgte, dass ich überleben würde, denn jeder Mann oder jede Institution, die versuchen, mich meiner Würde zu berauben, werden verlieren, weil ich davon nicht zu trennen bin, um keinen Preis und unter keinem Druck.“ (Mandela 1994, 494) Diese bemerkenswerten Sätze finden sich in der Autobiographie von Nelson Mandela über die Zeit nach der Ankunft in Robben Island, der berüchtigten Gefängnisinsel. Wie wenig andere hat uns Nelson Mandela gezeigt, was es heißt, die menschliche Würde unter widrigsten Umständen zur Quelle und Richtschnur des eigenen Lebens und Verhaltens zu machen. Der Kern der Würde besteht im Wissen um unsere innere Schönheit und unseren Wert an sich. Dieses Wissen steckt in Mandelas Worten. Es wirkt ermächtigend und befreiend. Die Würde stellt die Basis für die individuelle und die kollektive Ermächtigung dar. Dies gilt auch für die Erfahrung Viktor Frankls. Sein Buch „… Trotzdem Ja zum Leben sagen“ über seine Erfahrungen in Konzentrationslagern ist „ein Dokument über das Aufrechterhalten des Menschlichsten im Menschen, selbst und besonders unter den widrigsten Lebensumständen: Würde, Sinn, Verantwortung, Liebe, Glaube.“
Normativ ist Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aus 1948 zentral, „vielleicht das schönste politische Gedicht der Kulturgeschichte“ (Alexander van der Bellen 2018): „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.” Allen Menschen kommt dieselbe Würde auf gleicher Basis zu. Die Würde dient damit als Fundament der Menschenrechte und zugleich als Kompass und Richtschnur für deren Konkretisierung und Anwendung. Gemeinsam bilden sie „die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt“ (Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte).
Die Menschenwürde kann aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden: zunächst als rechtlich-normativer Ankerpunkt (in den internationalen Menschenrechtsdokumenten und den staatlichen Verfassungen), als moralphilosophisches Konzept (grundlegend: die sittliche Autonomie der Menschen als Basis ihrer Würde im Sinne Kants, Nowak 2018, 27ff.) oder aus religiöser/theologischer/ spiritueller Sicht (Bielefeldt 2011, 22ff.). Zu diesen traditionsreichen Formen der Befassung mit Würde gesellen sich neuere Ansätze, insbesondere jene, die die Relevanz der Erfahrung der Würde betonen, sei es etwa im psychotherapeutischen Kontext (Reddemann 2009) oder in der transdisziplinären Konfliktforschung (Hicks 2011). Hinzu kommen Perspektiven aus der Hirnforschung (Hüther 2018). Und der Logotherapeut und Existenzanalytiker Alfred Längle schreibt: „Würde haben heißt, Wert aus sich heraus zu haben, aus dem bloßen Faktum des Personseins und daß dieses nicht von uns gemacht wurde, daher in der seiner Herkunft unantastbar ist. Jeder Mensch hat etwas Wesentliches, das nur ihm gehört.“ (Längle 2011, 27)
Die in den internationalen Menschenrechtstexten und nationalen Verfassungen verankerten Menschenrechte können als Konkretisierung der Menschenwürde gesehen werden.
Würde und Rechte sind untrennbar mit Verantwortung und Pflichten verbunden, sowohl ethisch als auch rechtlich. „Denn um frei zu sein genügt es nicht, einfach nur die Ketten abzuwerfen, sondern man muss so leben, dass man die Freiheit der anderen respektiert und fördert.“ (Mandela 1994, 751) Dieser Satz fasst die Essenz der „Menschenrechte in Aktion“, d.h. in der konkreten Anwendung, prägnant zusammen. Mit dem Bild jedes Menschen als Träger:in von angeborener Würde sind Verantwortlichkeiten und Pflichten verbunden: Bestimmte Handlungen, die die Menschenwürde beeinträchtigen, dürfen nicht gesetzt werden, bestimmte Handlungen sind geboten, um die Menschenwürde zu schützen und zu fördern. Diese Verantwortlichkeiten/Pflichten sind ethischer und rechtlicher Natur. Auf einer elementaren ethischen Ebene ist es die Goldene Regel, die in philosophischen und religiösen Systemen weitverbreitet ist, und als Kern eines Weltethos gesehen werden kann. (Küng 1996, 84) Sie existiert in einer negativen Formulierung: „Tue nicht anderen, was du nicht willst, dass sie dir tun.“ Und in einer positiven Formulierung: „Alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihr ihnen ebenso.“
Und wie ethisch der Würde Verantwortlichkeiten entspringen, sind die konkreten Menschenrechte untrennbar mit rechtlichen Pflichten verbunden, primär des Staates, aber indirekt auch von Individuen und Gruppen. Der Staat hat negative und positive Pflichten betreffend die einzelnen Menschenrechte, er muss sie achten (Achtung/ negativ: etwas nicht tun, was die Menschenrechte verletzt – nicht unzulässig eingreifen) und gewährleisten (Gewährleistung/positiv: etwas tun – konkrete Maßnahmen setzen, um die Menschenrechte aktiv zu schützen und zu fördern). Zur Illustration: Die Polizei darf beim Einschreiten einerseits nicht unverhältnismäßige Gewalt anwenden (Achtungspflicht), andererseits muss sie bei drohender Gewalt unter Privatpersonen geeignete und erforderliche Maßnahmen ergreifen, um Bedrohungen der Menschenrechte durch Privatpersonen zu begegnen, z.B. bei Gewalt in intimen Beziehungen (Gewährleistungspflicht).
Das Ziel der Menschenrechte ist ein Leben in Würde für alle, und damit auch „Freiheit von Furcht und Not“. (Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte) Um dieses Ziel zu erreichen, stellen die Menschenrechte normative Kriterien, Mechanismen und Prozesse bereit.
Klar ist allerdings, dass die Welt keineswegs menschenrechtlich gestaltet ist, dass vielmehr massive und systematische Verletzungen der Menschenrechte weiterhin an der Tagesordnung sind, und zwar weltweit. Zur mangelnden Umsetzung kommt, dass die Menschenrechte derzeit eine veritable Legitimitätskrise durchlaufen. Sie werden nicht mehr unwidersprochen als die zentrale Grundlage staatlicher Organisation und gesellschaftlichen Miteinanders angesehen. Noch nie in der Zeit meiner Beschäftigung mit Menschenrechten seit Mitte der 1980er Jahre waren menschenrechtliche Positionen – die auf der Basis internationaler Dokumente im Wesentlichen gleichgeblieben sind – so marginalisiert wie derzeit. Beispiele: Die Zustimmung zu Folter ist in den letzten Jahren in vielen Ländern gestiegen, unter anderem in den USA. Das Sterben im Mittelmeer wird von einem Großteil der europäischen Politik und der Bevölkerung hingenommen. Der Raum für die Menschenrechtsarbeit von Nichtregierungsorganisationen wird weltweit enger. Die Versuchung illiberaler Demokratie verbreitet sich, Angriffe auf die Medien nehmen zu, rechtstaatliche Strukturen werden untergraben, Politiken der Exklusion und des Rassismus werden wieder offen hoffähig, wirtschaftliche und soziale Rechte ausgehöhlt, die Einkommensungleichheit zwischen Management und Arbeitnehmer:innen wächst exorbitant. Der klar völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine ist ein besonders eklatantes Beispiel für die Schwächung des internationalen Rechts, zu der gerade auch die USA in ihrer in weiten Teilen menschenrechtswidrigen Reaktion auf den Terrorakt am 11. September 2001 beigetragen haben.
Dieser beunruhigende Befund bedarf allerdings einer Ergänzung bzw. Korrektur, die sich durch die Einnahme einer längerfristigen Perspektive ergibt, mit der der Blick geweitet wird und anderes sichtbar wird. Exemplarisch sei genannt: der kontinuierliche Rückgang der Gewalt über die Jahrhunderte (z.B. das Sinken der Mordzahlen in Europa und der Trend zur Abschaffung der Todesstrafe) (Pinker 2013); Fortschritte im Bereich der globalen Armutsbekämpfung, des Zugangs zu Bildung und zu medizinischer Versorgung im Globalen Süden (Rosling 2019), zumindest vor der Covid-19 Krise, insbesondere in China und Indien. Einen besonders wichtigen Bereich von Verbesserungen bilden des Weiteren die Rechte von Menschen mit Behinderungen, wo sich in den letzten Jahrzehnten ein Paradigmenwechsel vollzogen hat, weg von einer paternalistischen Sicht auf Menschen mit Behinderungen hin zu einer, die deren Autonomie und Würde betont. Dieser Prozess gewann durch die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen aus 2006 zusätzliche Kraft. Ähnliches lässt sich für den Bereich der Kinderrechte sagen. Und auch wenn es immer wieder Rückschläge gibt, haben die Frauenbewegungen und andere Anti-Diskriminierungsbewegungen Wesentliches erreicht. Diesen Trends stellen wahrscheinlich „tiefenkulturelle“ Veränderungen dar, die im kollektiven Unbewussten liegen und schwer rückgängig zu machen sind (Galtung 1996, 145ff.).
Ein besonders eindrucksvoller Fall einer menschenrechtsbasierten Antwort auf eine nationale Ausnahmesituation stellt der Umgang Norwegens mit den Terrorakten Anders Breiviks dar. Am 22. Juli 2011 tötete Breivik im Zentrum Oslos und auf der Insel Utøya 77 Menschen, davon 69 Teilnehmer:innen eines Zeltlagers der Jugendorganisation der sozialdemokratischen Arbeiterpartei. In ihrer Reaktion blieben sowohl die politische Führung Norwegens als auch die norwegische Polizei sehr bewusst innerhalb des menschenrechtlichen und rechtstaatlichen Rahmens. Insbesondere die Durchführung der polizeilichen Vernehmung von Breivik war bemerkenswert, da dieser bei der Erstvernehmung zu Protokoll geben hatte, dass dieser Anschlag erst der Anfang sei. „Dies ist nicht die Operation. Es sind nur Feuerwerkskörper im Vergleich zu dem, was passieren wird ... Zelle zwei und drei werden in naher Zukunft aktiv.“ (Rachlew 2017) Ein derartiges Szenario („Tickende Bombe“) ist immer wieder diskutiert worden, um die Anwendung von Folter in Ausnahmesituationen zu rechtfertigen. Die norwegische Polizei tappte nicht in die von Breivik gestellte Falle, blieb bei ihrer Praxis einer vertrauens- und würdebasierten Vernehmung und konnte die Einzeltäterhypothese bestätigen; ein menschenrechtlicher Lichtblick im Umgang mit verbrecherischen Strategien, die mit dem Schüren von Angst operieren.
Ein wesentlicher Grund für das Zurückdrängen der Menschenrechte liegt im Erstarken rechtspopulistischer Bewegungen, deren Strategien der Abgrenzung, Ausgrenzung und Spaltung mittels Instrumentalisierung der Angst einen direkten Angriff auf die menschenrechtlichen Werte und die sie schützende Institutionen darstellen. Die Forderung nach einer Änderung etwa der für Österreich zentralen Europäischen Menschenrechtskonvention zulasten von Geflüchteten und ihrer Familien wurde von Jörg Haiders FPÖ schon in den 1990er Jahren erhoben, in der jüngsten Zeit kamen solche Forderungen auch von der ÖVP, ein deutliches Zeichen dafür, dass menschenrechtsfeindliche Positionen im politischen Mainstream angekommen sind. In ihrer erhellenden diskurstheoretischen Analyse der „Politik mit der Angst“ spricht Ruth Wodak von der „Haiderisierung Europas“ (Wodak 2016, 198ff.).
Der Rechtspopulismus kann als eine Folge der epochalen Umwälzungen seit 1989 verstanden werden, in deren Folge das neoliberale Paradigma seinen Siegeszug angetreten hat. Gut vorbereitet von akademischen Think Tanks hatte die neoliberale Wende weitreichende Folgen für Wirtschaft, Staat und Gesellschaft: Deregulierung, Abbau von Rechten von Arbeitnehmer:innen, Privatisierung von staatlichen Aufgaben, inklusive zentraler hoheitlicher Funktionen wie etwa Gefängnismanagement und Sicherheitsdienstleistungen. Diese Umwälzungen führten u.a. zu einem massiven Orientierungs- und Kontrollverlust beträchtlicher Teile der Bevölkerung, die sich durch diese Entwicklungen materiell und/oder kulturell bedroht fühlen bzw. ganz konkrete Nachteile erlitten haben: die prekäre Klasse und die alte Mittelklasse, die zu den Verlier:innen dieses Transformationsprozesses gehören. Diesen stehen als Gewinner:innen eine neue Mitteklasse von Hochqualifizierten, kosmopolitisch Orientierten und an Selbstentfaltung Interessierten gegenüber (siehe Reckwitz 2019, 126 ff.). Im Kern der rechtspopulistischen Klassenkämpfe geht es neben dem Materiellen auch um Anerkennung und Würde.
Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sind zwar in internationalen Menschenrechtsverträgen verbürgt, sind aber weiterhin marginalisiert und in vielen Ländern, inklusive Österreich, weder in der Verfassung verankert noch im öffentlichen Bewusstsein präsent. Angesichts des herrschenden neoliberalen Paradigmas stellen sie praktisch weiterhin Rechte zweiter Klasse dar. Die mangelhafte soziale Absicherung großer Teile der Menschheit und die skandalöse weltweite Ungleichheit stellen zugleich eine immense Bedrohung der Sicherheit auf elementarer Ebene dar, und produzieren ganz reale Ängste vor sozialem Abstieg, die wiederum politisch instrumentalisiert werden, um u.a. Menschen mit Migrationshintergrund, Geflüchtete und andere marginalisierte Menschen auszugrenzen. Glaubwürdige und offensiv vertretene Perspektiven für eine inklusivere Gesellschaft und ein entschlossener Kampf gegen die wachsenden Ungleichheiten fehlen im politischen Feld weitgehend, seit die sozialdemokratischen Parteien in 1990er Jahren auf „eine im ökonomischen Sinne systemkonforme Linien eingeschwenkt“ sind, womit „dem Protest nur noch der Rückzug ins Expressive und Irrationale“ bleibt (Habermas 2016).
In der öffentlichen Wahrnehmung ist das Bild der Menschenrechte verzerrt. Ausdruck davon sind Sätze wie: „Die Menschenrechte gelten nur für die anderen.“, „die Flüchtlinge“, „die Minderheiten“; „sie schützen die Verbrecher und vergessen auf uns“. Es ist zentral, Menschenrechte als das zu kommunizieren, was sie tatsächlich sind: Alltägliche Rechte, jene Rechte, die wir alle jeden Tag genießen, die es uns ermöglichen, ein gutes Leben zu führen, inklusive des Zugangs zu ärztlichen Leistungen, zu kulturellen Veranstaltungen und Schutz vor Ausbeutung im Arbeitsleben. Diese Rechte nehmen die meisten ganz selbstverständlich in Anspruch, ohne sich bewusst zu sein, dass es sich dabei um Menschenrechte handelt. Mit dieser Alltäglichkeitsorientierung würden wir auch besser sehen, was die Menschenrechte leisten, viel mehr als gemeinhin bekannt. Der Umstand, dass fast alles im (österreichischen) Alltag so reibungslos funktioniert, hat auch mit einem funktionierenden Menschenrechtssystem zu tun. Die fundamentalen Beiträge der Menschenrechte müssen stärker sichtbar gemacht und betont werden.
Die Covid-19-Krise hat zwar die „Alltäglichkeit“ der Menschenrechte und ihrer praktischen Relevanz vor Augen geführt, allerdings auch gezeigt, dass ein angemessenes Verständnis der Menschenrechte in weiten Teilen der Bevölkerung nicht vorhanden ist. Die im Zuge der Covid-19 Krise getroffenen Maßnahmen stellen zwar (massive) Eingriffe in mehrere Menschenrechte dar, u.a. das Recht auf Privatheit (Maskenpflicht, Impfpflicht). Aber und entscheidend: Diese Rechte gelten nicht absolut, sondern können eingeschränkt werden, um andere Rechte (Recht auf Leben, Recht auf Gesundheit) zu schützen. Das erfordert eine genaue Abwägung der einzelnen Umstände, um festzustellen, ob in Menschenrechte (zulässigerweise) eingegriffen wird oder diese (unzulässigerweise) verletzt werden. Die pauschale Kritik vieler Maßnahmenkritiker:innen verkennt dies und verabsolutiert die eigene Freiheit in unzulässiger Weise. Eine höchst aufschlussreiche soziologische Studie der Protestbewegung gegen die Covid-19 Maßnahmen spricht in diesen Zusammenhang vom Phänomen einer „verdinglichten Freiheit“, einem libertären Verständnis von Freiheit, das diese nicht als geteilten gesellschaftlichen Zustand, sondern als „persönlichen Besitzstand“ von Individuen sieht (Amlinger & Nachtwey 2022, 14, nähere Ausführungen auf 171ff.).
Wie erwähnt, geht es im Kern der rechtspopulistischen Klassenkämpfe neben dem Materiellen auch um kulturelle Fragen. Die im Zug der Globalisierung erfolgte Abwertung der Lebensstile der prekären Klassen und der traditionellen Mittelklasse hat die Verunsicherung und Ängste zusätzlich gefördert und leistet der Polarisierung Vorschub. Kämpfe um den Lebensstil münden in Forderungen nach kultureller Souveränität, der Betonung des mehrheitlichen „Wir“, des Volkes und der Gemeinschaft, in der wieder Geborgenheit und Anerkennung hergestellt werden kann. Die Auseinandersetzungen um die gender-gerechte Sprache und um Essensgewohnheiten (Betonung der Wichtigkeit traditioneller Speisen für das kulturelle Identität) sind Ausdruck davon.
Um damit konstruktiv umzugehen, bedarf es zunächst einer klaren Zurückweisung der politischen Instrumentalisierung dieser Verunsicherung und polarisierender, diskriminierender und rassistischer Sprache. Und die mit rechtlicher Zwangsgewalt ausgestatteten staatlichen Behörden bleiben zentrale Pfeiler der Sicherung der Menschenrechte gegen (kommunikativ) gewalttätige Menschen.
Es braucht allerdings auch eine selbstreflexive Grundhaltung und einen kritischen Blick auf mögliche eigene abwertende und diskriminierende Muster, die eigenen blinden Flecken. Damit ist etwa eine Tendenz zur Abwertung von Menschen mit geringer Bildung und/oder politisch rechter Gesinnung gemeint. Sie ist in den sozialen Medien weit verbreitet, die Reflexionsbereitschaft darüber kaum. Pierre Bourdieu benennt dieses Phänomen in starken Worten: Es handelt sich um einen „Rassismus der Intelligenz“, „das, was den [kulturell] Herrschenden das Gefühl gibt, in ihrer Existenz als Herrschende gerechtfertigt zu sein; das Gefühl, Wesen höherer Art zu sein“ (Bourdieu 1993, 252).
Auf der Basis einer derartigen selbstreflexiven Praxis braucht es ein aktiveres Zugehen auf alle Bevölkerungsgruppen und neue kommunikative Strategien, die auch die Lebenswelten derer erreichen, die den Menschenrechten (teilweise) ablehnend gegenüberstehen.
Mit dieser Haltung und entsprechenden Methoden ausgestattet, können die Anerkennung der Existenz unterschiedlicher Perspektiven und der echte Austausch zwischen diesen gelingen. Weiters ist ein klares (konstruktivistisches) Bewusstsein der Standortgebundenheit und damit der Relativität des eigenen Standpunkts ebenso unerlässlich wie eine angemessene Ambiguitätstoleranz, also die Fähigkeit, Mehrdeutigkeiten und Unklarheiten auszuhalten und damit konstruktiv umzugehen (Bauer 2019).
Was ist also der Beitrag der Menschenrechte für den konstruktiven Umgang mit Polarisierung und Ängsten? Richtig verstanden, stellen die Menschenwürde und die darauf aufbauenden Menschenrechte einen Kompass und Orientierungspunkte für die gegenwärtigen Zeiten der Polarisierung und Krisen bereit. Angesichts realer Bedrohungen, insbesondere durch die Klimakrise, und bestehender gesellschaftlicher Verwerfungen ist es von zentraler Bedeutung, dass wir die wesentliche Funktion der Menschenrechte für eine friedliche Gesellschaft deutlich machen: als hilfreiche Verfahren zum Ausgleich unterschiedlicher Interessen und als Mechanismus zur Absicherung menschenwürdiger Lebensbedingungen. Dazu bedarf es nicht nur rechtlich-politischer Ansätze, sondern auch der Entwicklung entsprechenden Bewusstseins und der Einübung von hilfreichen Haltungen, die die Menschenwürde und die Menschenrechte fördern. Und hier wird die Verbindung zur psychotherapeutischen Praxis sichtbar, die wohl einen wesentlichen Beitrag auf dieser tieferen Ebene der Transformation leisten kann.
Amlinger C & Nachtwey O (2022) Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Bauer Th (2019) Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Stuttgart: Reklam Bielefeldt R (2011) Auslaufmodell Menschenwürde? Warum Sie in Frage steht und warum wir sie verteidigen müssen. Freiburg: Herder
Bourdieu P (1992) Rede und Antwort. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Bourdieu P (1993) Soziologische Fragen. Frankfurt am Main: Suhrkamp,
Galtung J (1996) Transcend and Transform. An Introduction to Conflict Work, London: Pluto Press
Habermas J (2016) Für eine demokratische Polarisierung. Wie man dem Rechtspopulismus den Boden entzieht. Blätter für deutsche und internationale Politik, 11, 35–42, https://www.blaetter.de/ausgabe/2016/november/fuer-eine-demokratische-polarisierung; abgerufen am 15.10.2023
Hicks D (2011) Dignity. The essential role it plays in resolving conflicts. New Haven/London: Yale University Press
Hüther G (2018): Würde. Was uns stark macht – als einzelne und als Gesellschaft. München: Albrecht Knaus Verlag
Küng H (1996) Projekt Weltethos, München/Zürich: Piper
Längle A (2011) Geist und Existenz. Existenzanalyse 28, 2, 18–31
Mandela N (1994) A long walk to freedom. London: Time Warner Books Uk
Nowak M (2018) Menschenwürde und Menschenrechte. Wien.
Pinker S. (2013): Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit. Frankfurt: Fischer
Rachlew A (2017) From interrogating to interviewing suspects of terror: Towards a new mindset, Blog Post, www.penalreform.org/blog/interrogating-interviewing-suspects-terror-towardsnewmindset/ abgerufen am 15.10.2023
Reckwitz A (2019) Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Berlin: Suhrkamp
Reddemann L (2009) Würde, ein vergessener Begriff in der Psychotherapie. in: Dorst B & Neuen C & Teichert W (Hrsg) Würde. Eine psychologische und soziale Herausforderung, Düsseldorf: Patmos, 9–29
Rosling H (2019) Factfulness: Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist. Berlin: Ullstein
Suntinger W (2020), Der Beitrag der Menschenrechte zur Überwindung der Spaltung, in: Lederhilger S J (Hg), Die gespaltene Gesellschaft – Analysen, Perspektiven und die Aufgabe der Kirchen, Regensburg: Verlag Friedrich Prustet, 74–91
Van der Bellen A (2018) Salzburger Festspiele: Eröffnungsrede 2018, www.youtube.com/watch, abgerufen am 15.10.2023
Vereinte Nationen, Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Resolution der Generalversammlung 217 A (III), 10.Dezember 1948, www.un.org/depts/german/menschenrechte/aemr.pdf
Wodak R (2016) Politik mit der Angst. Zur Wirkung rechtspopulistischer Diskurse. Wien/Hamburg: Edition Konturen
[1] Der vorliegende Beitrag ist eine adaptierte Version von Suntinger W (2020).
Walter Suntinger ist Senior Lecturer und Academic Programme Manager am Vienna Master of Arts in Applied Human Rights an der Universität für Angewandte Kunst. Zuvor Studium der Rechtswissenschaften mit Spezialisierung im internationalen Menschenrechtsschutz, Lehrgang für Systemisches Change Management an der Steinbeis Universität Berlin; selbständiger Menschenrechtskonsulent, Trainer und Universitätslektor; Arbeitsschwerpunkte sind: Menschenrechte im Polizei- und Justizsystem, Menschenrechtsmonitoring von Orten der Freiheitsentziehung, Wirtschaft und Menschenrechte. Partner der HumanRightsConsulting Vienna, systemischer Berater; Lehraufträge an mehreren österreichischen und internationalen Universitäten.
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