Hybride Regime sind also keineswegs homogen. Während einige stabile Entwicklung oder sogar internationalen Einfluss erreichen, scheitern andere zunehmend an inneren Widersprüchen, ökonomischen Abhängigkeiten und institutionellem Abbau. Ein warnendes Beispiel ist das einzige hybride Regime in der EU: das Orbán-Regime in Ungarn. Die Prozesse der Hybridisierung und des autoritären Populismus, wie sie etwa in Ungarn sichtbar sind, lassen sich auch auf Österreich übertragen – wenn auch in abgeschwächter und institutionell gebremster Form.
Im Laufe der Geschichte hat sich die Menschheit verschiedene sozioökonomische und politische Systeme herausgebildet, die jeweils bestimmte Phasen der Zivilisation prägten. Beginnend mit den antiken Großreichen über den Feudalismus bis hin zum Kapitalismus und der liberalen Demokratie lassen sich Muster erkennen, die auf eine sukzessive Erschöpfung systemischer Variationsmöglichkeiten hindeuten (Tainter, 1988; Diamond, 2005).
Zum Beispiel, die frühen Hochkulturen wie Ägypten, Mesopotamien, das Römische Reich und das chinesische Kaiserreich zeichneten sich durch zentralisierte Machtstrukturen, Agrarökonomien und häufig theokratische oder dynastische Herrschaftsformen aus. Die Systeme variierten zwischen zentralistischen Modellen (z. B. Ägypten) und dezentralisierten Stadtstaaten (z. B. Griechenland). Ihre Erschöpfung resultierte u.a. aus ökonomischer Überdehnung, technologischer Stagnation, innerer Instabilität und äußeren Invasionen. Später, der Feudalismus stellte ein auf Landbesitz und persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen beruhendes System dar, das in verschiedenen Varianten existierte: der westeuropäische Lehnsfeudalismus, der zentralistische byzantinische Feudalismus oder das japanische Shogunat. Gemein war ihnen eine ständische Gesellschaftsstruktur und geringe soziale Mobilität. Der Feudalismus wurde u.a. durch die Herausbildung von Städten, die Entwicklung des Handels und den Aufstieg eines selbstbewussten Bürgertums abgelöst (Braudel, 1985; Wallerstein, 1993).
Daraufhin etablierte sich der Kapitalismus im Übergang zur Neuzeit und durchlief mehrere Phasen wie zB. Merkantilismus, Laissez-faire-Kapitalismus, monopolistischer Kapitalismus, Keynesianismus, Neoliberalismus, Neomerkantilismus und auch Finanzkapitalismus. Trotz signifikanter Unterschiede teilen diese Modelle die Prinzipien der Profitmaximierung, des Privateigentums und der Lohnarbeit (Polanyi, 2002; Harvey, 2007; Streeck, 2013). Spätestens im digitalen Zeitalter stößt der Kapitalismus an ökologische, soziale und systemische Grenzen (Piketty, 2014; Zuboff, 2023). Ergänzend zur kapitalistischen Ökonomie entwickelte sich die liberale Demokratie in unterschiedlichen Ausprägungen: das angelsächsische Zwei-Parteien-Modell, kontinentale Mehrparteiensysteme, konsensuale Demokratien und viele teilweise unterschiedliche Formen der hybriden, autoritär-populistischen Systeme (Levitsky & Way, 2010; Merkel, 2014).
Hybride Regime sind also keineswegs homogen. Während einige stabile Entwicklung oder sogar internationalen Einfluss erreichen, scheitern andere zunehmend an inneren Widersprüchen, ökonomischen Abhängigkeiten und institutionellem Abbau. Zum Beispiel setzte China seit den 1980er Jahren auf ein autoritär gesteuertes, aber ökonomisch hochgradig flexibles Entwicklungsmodell: staatlich gelenkter Kapitalismus, langfristige Industriepolitik, Investitionen in Bildung, Forschung und Infrastruktur, funktionierende Bürokratie, langfristige Planungsmechanismen und technokratische Eliten, gekoppelt mit globaler Integration (Huang, 2008; Naughton, 2018). Dadurch konnte China Massenarmut drastisch reduzieren und sich als geopolitischer Akteur etablieren.
Ein anderes Beispiel ist Indien. Das Land entwickelte sich teils demokratisch, weist aber ebenfalls Merkmale hybrider Regierungsführung auf – vor allem durch Hindu-nationalistische Tendenzen unter der BJP (Chhibber & Verma, 2018). Dennoch bleibt der demokratische Pluralismus weitgehend erhalten. Der wirtschaftliche Erfolg stützt sich auf IT, Dienstleistungen und eine junge, wachsende Bevölkerung.
Erfolgreiche hybride Regime verfügen also über hohe institutionelle Kapazität, wirtschaftliche Innovationskraft, langfristige Entwicklungsziele, gesellschaftliche Kohäsion und strategische Autonomie und vor allem finanzielle Ressourcen. In diesen Regimen akzeptiert die Bevölkerung eingeschränkte Rechte und autoritäre Machtausübung, solange die Lebensqualität steigt. Diese hybriden Regime scheinen zumindest ökonomisch effektiver zu funktionieren, als in den westlichen Demokratien eigebetteten Kapitalismusformen und bilden neue Weltwirtschaft Zentren aus (Levitsky & Way, 2010). Es scheint, dass der Kapitalismus in diesen Ländern seine letzte, erfolgreiche Form gefunden hat, solange sie ständig einen wirtschaftlichen Wachstum aufzeigen können.
Ein warnendes Beispiel ist jedoch das einzige hybride Regime in der EU: das Orbán-Regime in Ungarn. Ungarn hat sich wirtschaftlich stark von ausländischen Investitionen und EU-Transfers abhängig gemacht. Der Arbeitsmarkt bleibt segmentiert, die Innovationsfähigkeit gering, und die Integration in globale Wertschöpfungsketten ist schwach (Kornai, 2015; Bogaards, 2018). Ungarn leidet unter Abwanderung, schrumpfender Bevölkerung, Fachkräftemangel und einem durch die Regierung selbst verschärften Bildungsabbau (z. B. Zerschlagung der autonomen Universitäten, Einschränkungen in der Wissenschaftsfreiheit). Die Bürokratie ist zunehmend politisiert, viele Institutionen abgebaut oder gleichgeschaltet. Ressourcen werden über klientelistische Netzwerke verteilt, was zu Ineffizienz, Korruption und einem Verfall öffentlicher Leistungen führt. Die Legitimation ruht zunehmend auf Feindbildern (EU, Migranten, Soros), „illiberalen“ Narrativen, Nationalismus und Chauvinismus und staatlich kontrollierten Medien (Bogaards, 2018). Dies bietet kurzfristige Mobilisierung, jedoch keine kohärente Zukunftsvision. Die soziale Integration ist schwach, die Ungleichheit wächst. In diesem Hybridregime herrscht eine starke politische und gesellschaftliche Polarisierung, die sich in der Unterstützung des Regimes widerspiegelt.
Wie die Ergebnisse des European Social Survey 2020 zeigen – und wie in der folgenden Abbildung zu sehen ist –, sind die Wähler*innen der Opposition mit der Funktionsweise des hybriden Regimes äußerst unzufrieden (z. B. in Bezug auf Armutsbekämpfung, Gleichheit vor dem Gesetz, freie Wahlen, Medienfreiheit usw.), während die Unterstützerinnen der Regierung im Vergleich zufrieden erscheinen.
Diese anomischen Tendenzen untergraben nach und nach das hybride Regime, obwohl die Wähler*innen nach wie vor für populistische Botschaften auf beiden Seiten des politischen Spektrums sehr empfänglich sind. Ungarn zeigt, wie Hybridität ohne substanzielle Integrationsmechanismen in eine Sackgasse führen kann. Die Mischung aus repressivem Staatsumbau, wachsender Ungleichheit und populistischer Symbolpolitik erzeugt Instabilität, statt sie zu verhindern.
Die Prozesse der Hybridisierung und des autoritären Populismus, wie sie etwa in Ungarn sichtbar sind, lassen sich auch auf Österreich übertragen – wenn auch in abgeschwächter und institutionell gebremster Form (Kaltwasser, 2017; Pelinka, 2019). Besonders die FPÖ, aber in bestimmten Phasen auch Teile der ÖVP (insbesondere unter Sebastian Kurz und teils unter Karl Nehammer), haben eine politische Rhetorik und strategische Orientierung verfolgt, die auf Elemente der illiberalen Demokratie oder einer schrittweisen Hybridisierung hindeuten. Auch wirtschaftlich lässt sich dieses Phänomen einordnen.
Wirtschaftlich motivierte Populisten wie die FPÖ setzen häufig auf ökonomischen Nationalismus – etwa durch die Betonung nationaler Interessen, „Österreich zuerst“-Strategien und die Ablehnung globaler Abhängigkeiten oder EU-Regulierungen. Dabei treten interventionistische Maßnahmen in den Vordergrund: z. B. Forderungen nach mehr Kontrolle über kritische Infrastruktur (Energie, Verkehr), heimische Produktionsförderung oder Subventionen für „österreichische“ Unternehmen. Das Ziel ist eine ökonomische Souveränität – ein zentrales Argument im Arsenal autoritär-populistischer Parteien, das der FPÖ als Mittel zur politischen Machtstärkung dient.
Wie auch in Ungarn zeigt sich der Versuch, ökonomische Loyalität durch gezielte Umverteilung und steuerpolitische Maßnahmen zu gewinnen. Steuersenkungen für untere und mittlere Einkommen in Kombination mit restriktiver Sozialpolitik für marginalisierte Gruppen (z. B. Migrant:innen) und restriktive Arbeitsmarktmaßnahmen, etwa durch Zuwanderungsbegrenzung, Einschränkungen für Asylwerber:innen oder Verschärfung von Arbeitslosengeldregelungen bieten Beispiele. Diese führen zu einem Segmentierungsprozess, der zwischen „verdienenden Inländern“ und „nicht integrierbaren Anderen“ unterscheidet – eine wichtige Legitimationsstrategie autoritärer Governance. Die Rhetorik der FPÖ zielt auf Delegitimierung „elitären“ Institutionen wie der Wirtschaftskammer, der Nationalbank oder der EU. Die ÖVP unter Kurz zentralisierte wirtschaftspolitische Entscheidungen stark im Bundeskanzleramt – ein Prozess, der der Exekutivdominanz in Ungarn ähnelt, aber in Österreich durch Verfassung und Zivilgesellschaft eingebremst wurde.
Wenn wir die früher erwähnte Ergebnisse des European Social Survey in Österreich betrachten, können wir eine eindeutige Nachfrage für ein Hybridregime unter FPÖ Wähler*innen feststellen. In Österreich sind die Wähler*innen der FPÖ mit den Elementen der immer noch gut funktionierenden liberalen Demokratie am unzufriedensten und empfinden das System als am schlechtesten. Wie die folgende Grafik zeigt, sind sie der Meinung, dass der derzeitige demokratische Rahmen keine Medienfreiheit zulässt, dass die Regierung nicht ersetzt werden kann, dass es keine Gleichheit vor dem Gesetz gibt, dass die Armut zu hoch ist und dass die Wahlen nicht frei sind: Sie würden eine direkte Demokratie viel lieber haben.
Weitere Daten zeigen auch, dass FPÖ-Wähler*innen am stärksten das Gefühl haben, dass die Stimme der einfachen Leute gegenüber der politischen Elite in Österreich nicht unterstützt und sogar ausdrücklich behindert wird und dass die Regierung zu anfällig für EU-Entscheidungen ist.
Die Antwort ist eigentlich ja. Während informelle Praktiken, Medienkonzentration, Einschränkungen bei der Gewaltenteilung oder selektive politische Repression zunehmen, könnten formale demokratische Institutionen erhalten bleiben. Dies könnte einer politischen Elite Machtstabilisierung ermöglichen, wie man es z. B. in Ungarn, Polen oder der Türkei beobachten konnte.
Auch ein Großteil der Bevölkerung könnte – bei ausreichend ökonomischer Sicherheit – solche „starken Führungsstrukturen“ zunächst begrüßen.
Mögliche Mechanismen in Österreich wären:
Das „illiberale Toolkit“ ist auch in Österreich bekannt – die FPÖ beherrscht es, und Teile der ÖVP haben es bereits erprobt.
Liberale Demokratien mit funktionierender Gewaltenteilung, unabhängiger Justiz und freier Presse sind verlässlicher für Investoren, für Innovation und für immer noch bessere soziale Kohäsion (Diamond, 2002; Merkel, 2014). Kleine, in der EU eingebetteten Länder mit hybriden Regime-Experimenten (wie in der Slowakei, in Polen oder Ungarn) zeigen häufig langfristig wirtschaftliche Stagnation, weil Korruption, Vetternwirtschaft und fehlende Rechtssicherheit Innovation hemmen. Außerdem, Österreich profitiert enorm von seiner Position als verlässliches, neutrales, demokratisches EU-Mitglied. Eine Hybridisierung in Österreich könnte das internationale Ansehen, EU-Mittel, diplomatische Kooperationen und wirtschaftliche Beziehungen nachhaltig gefährden – wie z. B. die Konflikte zwischen Ungarn und der EU zeigen.
Bogaards, M. (2018). De-democratization in Hungary: Diffusely defective democracy. Democratization, 25(8), 1481–1499.
Braudel, F. (1985). The structures of everyday life: civilization and capitalism, 15th-18th century. Harper & Row.
Chhibber, P., & Verma, R. (2018). Ideology and identity: The changing party systems of India. Oxford University Press.
Diamond, J. (2005). Collapse: How societies choose to fail or succeed. Viking.
Diamond, L. (2002). Elections without democracy: Thinking about hybrid regimes. Journal of democracy, 13(2), 21-35.
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Harvey, D. (2007). A brief history of neoliberalism. Oxford University Press.
Huang, Y. (2008). Capitalism with Chinese characteristics: Entrepreneurship and the state. Cambridge University Press.
Kaltwasser, C. R., Taggart, P. A., Espejo, P. O., & Ostiguy, P. (Eds.). (2017). The Oxford handbook of populism. Oxford University Press.
Kornai, J. (2015). Hungary’s U-turn: Retreating from democracy. Journal of Democracy, 26(3), 34–48.
Levitsky, S., & Way, L. (2010). Competitive authoritarianism: Hybrid regimes after the Cold War. Cambridge University Press.
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Naughton, B. (2018). The Chinese economy: Adaptation and growth (2nd ed.). MIT Press.
Pelinka, A. (2019). Rechtspopulismus in Österreich. In Rechtspopulismus in Einwanderungsgesellschaften: Die politische Auseinandersetzung um Migration und Integration (pp. 133-158). Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden.
Piketty, T. (2014). Capital in the twenty-first century. Harvard University Press.
Polanyi, K. (2002). The great transformation. Readings in economic sociology, 38-62.
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Tainter, J. (1988). The collapse of complex societies. Cambridge University Press.
Wallerstein, I. (1993). The Modern World System. Social Theory: The Multicultural and Classic Readings, 427.
Zuboff, S. (2023). The age of surveillance capitalism. In Social theory re-wired (pp. 203-213). Routledge.
Dr. habil. István Grajczjár, ist Leiter des Lehrstuhls für Internationale- und Politische Studien an der Milton Friedman Universität, Budapest, und Lehrbeauftragter an der Universität Wien. Seine Hauptforschungsgebiete umfassen gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungen und Krisen, Solidarität, politischen Populismus und Radikalismus sowie die Erforschung des Antisemitismus.
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