Wenn wir Einfluss auf etwas haben, dann ist plötzlich wichtig, ob das, was wir sagen, das, was wir tun, auf einer faktischen Grundlage basiert. Das haben Schüler:innen aber meistens nicht. Sie haben weder ein Stimmrecht, noch haben sie einen Einfluss auf irgendwas. Und das spüren sie.
Ich wurde in der Sowjetunion geboren und meine Mutter sagte, als sie nach Deutschland migriert ist, hat sie fünf Jahre gebraucht, um zu lernen, was Selbstwert ist. Weil wir aus einem Staat kommen, wo der individuelle Mensch gar nichts wert ist. Aller Wert ergab sich aus dem Kollektiven, aus den großen Idealen. Das war der Zar, dann war es der Kommunismus. Also es war immer etwas, das über dir steht. Und für mich hat sich Demokratie angefühlt wie: “Ich werde gebraucht. Ich bin sehr viel wert. Das ist meine Gesellschaft. Ich bin hier nicht als Besucher. Ich bin hier nicht Opfer. Ich bin hier nicht bloß Konsument.” Das hier ist meine Gesellschaft und ich kann sie gestalten, sodass sie meinen Bedürfnissen entgegenkommt, sodass sie den Bedürfnissen meiner Nächsten entgegenkommt. Das ist, glaube ich, für mich, was das Grundgefühl von Demokratie ausmacht.
Im Moment funktioniert die Einflussnahme von Menschen auf unsere Staatsform, aber auch auf unser Leben am meisten, wenn sie gut vernetzt sind, wenn sie Geld haben, wenn sie etabliert sind. Und das ist aber bei weitem nicht die Mehrheit der Menschen. Und das ist ein gefährlicher Punkt, denn wenn die Demokratie für die Mehrheit der Menschen keine ebenbürtige Repräsentanz schafft, dann werden sie sie als System nicht wertschätzen. Und ich glaube, dass ich erreichen möchte, dass Vernetzung, Etabliertheit, Reichtum keine Voraussetzungen für Teilhabe sind. Ich möchte Teilhabe gerecht machen, verteilen. Und zwar nicht einfach nur, weil es gerechter ist und weil die Demokratie dann besser geschützt ist, sondern weil sie dann klüger wird. Wir haben so komplexe Probleme heutzutage. Die Welt ist so komplex, wie sie noch nie war und so vernetzt. Wir brauchen die Expertise aller Menschen. Und alle Menschen sind zumindest Expert: innen für ihr eigenes Leben, für ihre eigene Situation. Das heißt, je mehr Meinungen, Perspektiven wir ins System reinholen, desto besser und krisenfester werden unsere Antworten auf Probleme. Und davon haben alle was.
Okay, der erste Teil meiner Antwort ist immer, Medienkompetenz wird uns nicht retten. Jedenfalls nicht Medienkompetenz allein. Ich glaube, das ist nicht die erste Frage, die wir stellen dürfen. Denn die klügsten Menschen unserer Zeit und das größte Kapital sind Vollzeit damit beschäftigt, wie man besser unsere Aufmerksamkeit ernten kann, um sie an Coca-Cola zu verkaufen.
Dagegen kommen wir nicht an, indem wir Achtklässlern beibringen, dass man eine Zweitquelle suchen muss. Das ganze Mediensystem, wie es aufgebaut ist in seiner kapitalistischen Logik, in der Aufmerksamkeitsökonomie, versucht ja in erster Linie möglichst viel Aufmerksamkeit zu ernten.
Was kriegt Aufmerksamkeit? Negatives und Radikales.
Das heißt, medial, sowohl in den klassischen Medien als auch in Social Media, wird unsere Welt systematisch schlechter dargestellt, als sie in Wirklichkeit ist. Die Plattformen, auf denen wir Zeit verbringen, haben nicht das Ziel, ein guter Ort zu sein, oder ein demokratischer Ort zu sein oder Austausch zu ermöglichen. Sie haben das Ziel, uns möglichst abhängig zu machen, um unsere Aufmerksamkeit lange zu fesseln und viele Werbeeindrücke zu erzeugen.
Das heißt, zuerst müssen wir darüber sprechen, welche wir Medien konsumieren? Wie bauen wir unsere Medienlandschaft auf? Wie finanzieren wir unseren Journalismus? Wollen wir wirklich, dass Journalist: innen davon abhängig sind, dass sie Klicks generieren? Oder wollen wir Raum schaffen für investigativen Journalismus, der nicht werbefreundlich ist?
Und dann, wenn wir über ein öffentliches Internet gesprochen haben, das nicht privat Milliardären gehört, über genossenschaftliche und öffentlich-rechtliche Medienmodelle, dann können wir über Medienkompetenz sprechen. Und ich glaube, dass Schulen bereits sehr viel im Bereich der Medienkompetenz leisten. Ich finde auch die Programme gut, in denen man selbst einmal Fake News erstellt und sich aktiv mit solchen Inhalten auseinandersetzt. Aber die Wahrheit ist, niemand sucht eine Zweitquelle, wenn man keine Motivation hat, unbedingt faktisch sein zu wollen.
Auch ich nicht. Wenn ich eine Nachricht sehe, die mir gefällt, die in mein Weltbild passt, dann ist die Wahrscheinlichkeit niedriger, dass ich sie hinterfrage. Woraus ergibt sich unsere Motivation, sorgfältig mit Medien umzugehen? Das ist, wenn wir Macht haben. Wenn wir Einfluss auf etwas haben, dann ist plötzlich wichtig, ob das, was wir sagen, das, was wir tun, auf einer faktischen Grundlage basiert. Das haben Schüler: innen aber meistens nicht. Es ist meistens völlig egal, was Schüler: innen glauben. Sie haben weder ein Stimmrecht, noch haben sie einen Einfluss auf irgendwas. Und das spüren sie. Und natürlich werde ich weniger verantwortungsvoll, wenn ich nun mal keine Verantwortung trage.
Das heißt, der Schlüssel ist nicht einfach nur die Werkzeuge in die Hand zu geben. Der Schlüssel ist auch, eine Motivation zu schaffen, diese Werkzeuge zu nutzen. Und die Motivation besteht in Beteiligung, in Teilhabe und darin auch junge Leute schon in echte Verantwortung zu bringen, weil sie dann von allein Zweitquellen suchen. Weil sie dann verstehen, oh, wenn ich jetzt hier Mist baue, dann leidet jemand darunter. Dieses Lernen müssen wir an Schulen ermöglichen.
Wir müssen neue Räume schaffen. Wir brauchen öffentliche Internetplattformen. Wir tun immer so, als sei das Internet ein öffentlicher Raum. Aber das ist er nicht. Wir sind nicht im öffentlichen Raum wie auf einem Marktplatz. Wir sind im privaten Wohnzimmer von Milliardären. Und es gibt Ansätze, solche öffentlichen Räume zu schaffen. Es gibt zum Beispiel das Fediverse, in dem unter anderem Mastodon als Alternative zu Twitter zu finden ist. Dieses Netzwerk ist dezentral organisiert. Dadurch kann es weder von einem Milliardär aufgekauft werden, noch kann eine Regierung autoritär eingreifen und Inhalte zensieren. Und das ist ein wirklicher öffentlicher Raum. Wir bräuchten öffentlich-rechtliche Ansätze. Also Dinge, die weder gewinnorientiert sind, noch staatlich. Und das ist die erste Herausforderung.
Das Zweite ist: Wir alle haben diese Ressource im Kopf, die tatsächlich wertvoller ist als Öl. Es ist im Moment die meistgesuchte Ressource der gesamten Wirtschaft. Und das ist unsere Aufmerksamkeit. Das Geile ist, wir kontrollieren die. Wir haben die völlige Macht über unsere Aufmerksamkeit. Wir können sie lenken und wir können reflektieren. Und ich glaube, das ist der eine Schritt, den Leute tun können. Wir können reflektieren, wem wir diese sehr wertvolle Ressource schenken. Soll das wirklich der Rage-Bait sein? Soll das wirklich die Frau sein, die Hackfleischsoße mitten auf ihrem Küchentresen kocht? Ohne Geschirr, weil uns das aufregt. Oder sagen wir vielleicht, nein, das ist ein zu billiger Versuch. Und meine Ressource ist dafür zu wertvoll. Und ich setze sie anders ein. Und ich glaube, junge Leute sind dem auch schon auf der Spur. Ich erlebe durchaus einen Trend weg von Social Media.
Ich meine, was macht Social Media geil? Es ist fantastisch, dass es uns verbindet. Und es ist fantastisch, dass es Leuten eine Stimme gibt, die vorher keine Stimme hatten. Nicht jeder hatte eine Zeitungskolumne. Gerade für behinderte und queere Menschen, für Menschen mit Depressionen oder neurodivergente Personen, die über ihre Erfahrungen sprechen möchten, bieten Plattformen wie YouTube oder Reddit enorme Möglichkeiten. Dort finden sich, wenn man an den richtigen Stellen sucht, wertvolle Erfahrungsberichte und Ressourcen. Und ich glaube, das ist einer der wesentlichen Werte, die ich unbedingt erhalten will. Es ist das Anerkennen, dass jeder einzelne Mensch, egal wer er ist oder wo, einen inhärenten Wert hat und stärkenorientiert etwas beizutragen hat. Und dass das durch eine Milliarde von Perspektiven wie durch ein Prisma leuchtet und ganz viele Menschen auf der Welt daraus etwas lernen, etwas gewinnen können und wir uns gegenseitig auf diese Weise bereichern. Ich glaube, das ist die große Stärke. Und ich glaube, es ist auch kein Zufall, dass autoritäre Kräfte genau dagegen arbeiten, genau gegen diese Idee, dass alle Menschen gleich viel wert sind.
Ich habe noch nie eine so politische Generation gesehen. Es ist wahr, dass Teile auch in eine negative, radikalisierte Richtung entwickeln. Letztlich ist das jedoch nur ein Nebeneffekt einer umfassenderen gesellschaftlichen Entwicklung. Es betrifft zudem nicht nur junge Menschen. Gleichzeitig ist diese Radikalisierung auch als Begleiterscheinung ihrer zunehmenden Politisierung zu sehen. Und, wenn ich an meine eigene Jugend denke, wir waren in den 90ern völlig apolitisch. Also wir haben nicht darüber nachgedacht, wie die Gesellschaft sein könnte. Und ich finde, allein schon das Nachdenken darüber, wie unsere Gesellschaft sein sollte, ist wertvoll. Sogar bei denen, die nicht die Antworten finden, die wir teilen, ist es trotzdem ein wichtiger Schritt. Das ist das eine, was mir Hoffnung macht.
Das zweite ist, dass wir als Menschheit überhaupt noch so jung sind. Wir lernen noch so viel von Generation zu Generation. Als die Druckerpresse aufkam, wurde die ja auch nicht sofort für die Aufklärung genutzt.
Die Druckerpresse, da liefen auch antisemitische Pamphlete drüber und alles Mögliche. Also jede neue Technologie wird erstmal von den ruchlosesten Menschen genutzt. Weil die nicht so viel Zeit darauf verschwenden, darüber nachzudenken, was mache ich ethisch mit dem Ding. Sondern die nutzen das erstmal für ihre Zwecke. Radio wurde von den Nazis genutzt und so weiter.
Aber alle diese Technologien sind geblieben. Und alle diese Technologien gehen auch nicht weg. Und sie alle werden irgendwann in das Normen- und Wertekorsett einer Gesellschaft eingespannt.
Das heißt, es ist ganz normal, was gerade passiert, dass wir straucheln, dass wir destabilisiert sind. Auf Menschheitsgeschichte betrachtet werden wir trotzdem immer friedlicher, immer humaner, immer egalitärer. Und wir dürfen nicht vergessen, dass diejenigen, die dafür kämpfen, ein wesentlicher Teil dieser Bewegung sind. Ich kann mich also nicht einfach zurücklehnen und sagen: „Ach, das wird schon.“ Nein, Veränderung entsteht durch Menschen, die aktiv dafür einstehen. Aber wir werden lernen, diese Technologien in unsere ethischen Vorstellungen zu integrieren und verantwortungsvoll mit ihnen umzugehen. Wir müssen uns einfach aktiv und offensiv damit auseinandersetzen, wie dieser Beitrag das tut.
Marina Weisband, geboren 1987 in der Ukraine, ist Diplompsychologin und Expertin für digitale Partizipation und Bildung. Sie ist Autorin mehrerer Bücher, z. B. "Die neue Schule der Demokratie" (2024, Fischer). Hauptberuflich gestaltet sie seit 2014 das Projekt aula – inzwischen aula gGmbH –, ein Konzept zur politischen Bildung und liquid-demokratischen Beteiligung von Jugendlichen an den Regeln und Angelegenheiten ihrer Schulen und außerschulischen Organisationen. Darüber hinaus hat sie eine regelmäßige Radiokolumne beim Deutschlandfunk und berät zu verschiedenen Aspekten von digitalem Wandel und Demokratie. Sie berät Unternehmen und Filmschaffende zu Fragen der Diversität und Beteiligung.
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