Wie können Städte und Gemeinden das Versprechen zur Sicherung der Demokratie von unten einlösen? Eine zentrale Rolle kommt Menschenrechtsstädten zu. Die Menschenrechtsstädte haben zwei bemerkenswerte Agenden eingeführt: Das Recht auf die Stadt als Ausgangspunkt und die Kultur der Menschenrechte als Weg, der zugleich auch Ziel ist.
Städte, Gemeinden und Kommunen sind Orte, an denen Demokratie unmittelbar im Alltag erfahrbar sein kann. Sie sind die Ebene, auf der Bürgerinnen und Bürger Demokratie am unmittelbarsten erleben: bei der Gestaltung von Nachbarschaften, der Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen oder in der Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen. Durch Transparenz, Teilhabe und den engen Austausch zwischen Verwaltung, Politik und Zivilgesellschaft können Städte Vertrauen in demokratische Institutionen schaffen. Gerade in Zeiten politischer Unsicherheit oder wachsender Distanz zwischen Bevölkerung und nationaler Politik können Kommunen Brücken bauen und Räume eröffnen, in denen Demokratie erfahrbar bleibt. Wie aber können Städte und Gemeinden dieses Versprechen zur Sicherung der Demokratie von unten einlösen? Eine zentrale Rolle kommt Menschenrechtsstädten zu.
Seit mehr als 25 Jahren verpflichten sich Städte in allen Regionen der Welt zur Umsetzung der universellen Menschenrechte auf lokaler Ebene. Auf der Basis politischer Selbstverpflichtungen haben sich diese Städte offiziell zu Menschenrechtsstädten erklärt. Ihr Grundgedanke ist, dass Städte Orte sind, an denen Menschenrechte konkret umgesetzt werden können – nicht nur durch nationale oder internationale Abkommen, sondern im direkten Lebensumfeld der Bürgerinnen und Bürger. Eine „Menschenrechtsstadt“ verpflichtet sich daher, die Prinzipien der Freiheit, Gleichheit, Teilhabe und Würde in ihrer Politik, Verwaltung und öffentlichen Kultur zu verankern. Dabei geht es nicht nur um die Einhaltung rechtlicher Standards, sondern auch um die aktive Gestaltung einer solidarischen und inklusiven Gemeinschaft. Menschenrechtsstädte fördern faire Zugänge zu Wohnraum, Bildung, Gesundheitsversorgung oder Mobilität und setzen sich für den Schutz besonders verletzlicher Gruppen ein.
Insbesondere schaffen sie Strukturen, in denen Bürgerinnen und Bürger in Entscheidungsprozesse eingebunden werden, und entwickeln Mechanismen um lokale Politik kontinuierlich an den Maßstäben der Menschenrechte zu messen. Durch Institutionalisierung der Menschenrechtsideale in Form von Menschenrechtsbüros, Ombudsstellen oder Beiräten und durch eine systematische Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern sowie zivilgesellschaftlicher Organisationen können Menschenrechte lokal verankert, umgesetzt und überwacht werden. Menschenrechte fordern Mitsprache von Bürgerinnen und Bürgern, Einbeziehung marginalisierter Gruppen und Transparenz in Politik und Verwaltung. Damit können Menschenrechtsstädte Wirkungsorte der Demokratie sein, in denen demokratische Innovation wie partizipative Budgetgestaltung, digitale Plattformen oder Stadtteilforen möglich werden. Gleichzeitig vernetzen sich Menschenrechtsstädte zunehmend auf nationaler und internationaler Ebene, um voneinander zu lernen, Erfahrungen auszutauschen und gemeinsame Standards zu entwickeln, etwa im Human Rights Cities Network oder der European Coalition of Cities against Racism (ECCAR). Damit beeinflussen lokale Impulse globale Diskussionen über Demokratie und Gerechtigkeit. Das Potential solcher Netzwerke wurde 2025 sichtbar, als der UN-Hochkommissar für Menschenrechte und der Internationale Städtebund gemeinsam mit einer Reihe von Menschenrechtsstädten das Guidance Framework for creating a Human Rights City präsentierten.
Ein Recht auf Mitsprache, Gleichbehandlung und Schutz vor Diskriminierung stärkt die demokratische Kultur vor Ort, während Menschenrechtsstädte zugleich Schutzräume gegen Ausgrenzung, Diskriminierung und Autoritarismus zur Verfügung stellen. In ihrer Vielgestaltigkeit gehen Menschenrechtstädte dabei verschiedene Wege zur Stärkung der Demokratie von unten.
Gwangju verbindet historische Erinnerung mit gegenwärtigem Engagement und stellt die Frage gestellt wird, was wir aus der Vergangenheit für die Gegenwart lernen können. Die Erinnerung an den Aufstand vom Mai 1980 gegen Militärdiktatur und Kriegsrecht prägt die Überzeugung, dass Demokratie immer wieder verteidigt werden muss und niemals selbstverständlich ist. Als eine der führenden Menschenrechtsstädte hat Gwangju auf der Basis der städtischen Human Rights Charta praktische Werkzeuge wie den Human Rights Index, der Human Rights Impact Evaluation und den Human Rights Ombudsman eingeführt und damit sowohl eine institutionelle Verankerung der Menschenrechte geschaffen als auch eine kommunale Kultur der Menschenrechte etabliert. Mit dem jährlichen World Human Rights Cities Forum als globale Plattform für demokratischen Debatten bringt die Stadt Politik, Verwaltung, Wissenschaft und Zivilgesellschaft zu Diskussion und der Verabschiedung konkreter Empfehlungen zusammen. Als erinnerungspolitisch-transnationales Modell betont Gwangju die historische Erfahrung des Widerstands gegen Diktatur, verbindet diese mit einer globalen Orientierung und versteht demokratischen Widerstand als universelles Gut, das weltweit geteilt werden muss. Gwangju stellt die Funktion der Stadt als globales Forum für Demokratie in den Vordergrund.
Als erste europäische Menschenrechtsstadt hat Graz seit 2001 mit der Etablierung eines Menschenrechtsbeirats und einem jährlichen Menschenrechtsbericht Instrumentarien zur kritischen Begleitung städtischer Politik und städtischen Handelns geschaffen. In Zusammenarbeit mit Universitäten und NGOs werden Missstände und Erfolge in Bereichen wie Integration, Inklusion, sozialer Zusammenhalt, Wohnraum und der Nutzung des öffentlichen Raums thematisiert. Dieses Modell betont die Rechenschaftspflicht von Politik und Verwaltung sowie die Bedeutung einer kontinuierlichen Beobachtung der Verwirklichung der Menschenrechte als Fundament demokratischer Kultur: Was verspricht die Stadtregierung der Bevölkerung? Welche Bemühungen macht die Regierung, die Versprechen umzusetzen? Was passiert, wenn Versprechen nicht gehalten werden? Mit dem UNESCO Zentrum für die Förderung der Menschenrechte auf der lokalen und regionalen Ebene verfügt die Stadt zudem über eine Institution, die auf wissenschaftlicher Basis lokale Verwaltungen in der Umsetzung der Menschenrechte berät und begleitet. Die jährliche Academy and Conference Human Rights Go Local: What Works verbindet Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Politik und Verwaltung und zeigt die Stadt als Labor demokratischer Praxis.
Die Stadt York entwickelte 2017 einen Menschenrechtsaktionsplan, der verschiedene Lebensbereiche von Obdachlosigkeit über Altenpflege bis hin zu Bildung abdeckt. Schulen, Universitäten und Bürgergruppen gestalten die Menschenrechtsagenda aktiv mit. York zeigt, wie ein umfassendes gesellschaftliches Bewusstsein für Menschenrechte geschaffen werden kann, das über den engen Kreis politischer Institutionen hinausgeht und wie Menschenrechte im Alltag der Stadtgesellschaft eingebettet werden können. Mit einem jährlichen Bericht unter Anwendung von Menschenrechtsindikatoren besteht eine wissenschaftliche Basis, auf der Fortschritte und Herausforderungen in der Umsetzung der Menschenrechte im nationalen Vergleich sichtbar gemacht werden. Grundlage des Berichts ist ein partizipativer Ansatz, in dem Bewohnerinnen und Bewohner gemeinsam mit Wissenschaft und Zivilgesellschaft prioritäre Rechte identifizieren, darunter Nichtdiskriminierung, Bildung, Gesundheit, soziale Versorgung, angemessener Lebensstandard und Wohnraum. Der Bericht ist ein lebendiges Monitoring-Instrument für lokale Menschenrechtsfragen, der wissenschaftliche Analyse mit bürgerschaftlichem Engagement verbindet und eine wichtige Rolle spielt, um politische Verantwortung wahrzunehmen, transparente Berichterstattung zu erlauben und gezielte Maßnahmen anzustoßen. Das Modell York lebt von einer kulturellen Transformation, mittels derer Demokratie zur Selbstverständlichkeit im Denken und Handeln der Menschen werden soll.
Wien versteht sich seit 2014 als Menschenrechtsstadt. Eine Menschenrechtskoordination innerhalb der Stadtverwaltung sorgt für die Umsetzung des Anspruchs durch die Entwicklung und Umsetzung von Maßnahmenplänen zur Förderung der Menschenrechte in der Stadt. Mittels Menschenrechtsbildung und Bewusstseinsbildung sowie in Veranstaltungen und Projekten wird das Thema Menschenrechte in der Stadtgesellschaft verankert und insbesondere auf die Bezirksebene und somit in unmittelbare Nähe der Menschen gebracht. Menschenrechte sollen sich damit als Querschnittsthema in der Wiener Stadtverwaltung und -gesellschaft etablieren. Wien setzt Schwerpunkte auf soziale Rechte wie leistbares Wohnen, Zugang zu Gesundheit und Bildung sowie auf Antidiskriminierung. Demokratie wird dabei insbesondere durch gerechte Verteilung und Teilhabe im Alltag gestärkt. NGOs werden in Entscheidungsprozesse einbezogen und in Dialogwerkstätten und durch andere Beteiligungsformate wird die Zivilgesellschaft eingebunden. Diese Initiativen fördern den Austausch zwischen Bürgerinnen und Bürgern und der Verwaltung und stärken die demokratische Kultur in der Stadt. Daraus entsteht beispielsweise die Forderung, allen aufhältigen Personen auch die Möglichkeit zur Beteiligung an Wahlen auf lokaler Ebene zu geben, wie in Artikel 21 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gefordert.
Barcelona nutzt partizipative Prozesse zur Verwirklichung der Menschenrechte und Förderung der Demokratie und verbindet digitale Innovation mit sozialem Aktivismus. Mit der Plattform Decidim (katalanisch für „wir entscheiden“) besteht ein digitales Werkzeug, das allen Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit gibt, Vorschläge einzubringen, über Initiativen abzustimmen und die Umsetzung politischer Maßnahmen nachzuvollziehen. Ein zentrales Element von Decidim Barcelona ist das partizipative Budget. Im Zeitraum 2024–2027 können Bürgerinnen und Bürger entscheiden, wie 30 Millionen Euro des städtischen Haushalts investiert werden sollen. Der Prozess umfasst dabei mehrere Phasen vom Einreichen von Vorschlägen über öffentliche Abstimmung zur Umsetzung der ausgewählten Projekte. Dies ermöglicht, direkten Einfluss auf die Verwendung öffentlicher Mittel zu nehmen. Barcelona zeigt, wie technologische Innovationen zur Stärkung lokaler Demokratie als free open-source democracy beitragen können.
In Winnipeg, der Stadt mit Kanadas größter indigener Bevölkerung, versucht die Stadtverwaltung, menschenrechtliche Prinzipien in ihre Regierungsarbeit zu integrieren, den Dialog mit der Bevölkerung durch verschiedene Informations- und Beteiligungsformate zu fördern, und insbesondere die indigene Bevölkerung einzubinden. Der Menschenrechtsausschuss der Stadt arbeitet dabei mit Behörden, zivilgesellschaftlichen Organisationen und Bürgerinnen und Bürgern zusammen und organisiert Foren, Workshops sowie Projekte zu Menschenrechten, Gleichstellung, Diversität und Inklusion. 2017 wurde der Winnipeg Indigenous Accord ins Leben gerufen, ein gemeinschaftlicher Prozess zwischen Stadt und indigenen Gemeinschaften, der konkrete Ziele und Fortschritte in Bezug auf Versöhnung und die Förderung von Menschenrechten festhält. Winnipeg ist zudem Sitz des weltweit einzigen Museums für Menschenrechte (Canadian Museum for Human Rights), das durch Architektur, Ausstellungen und Sammlungen historische Perspektiven und aktuelle Auseinandersetzungen rund um Menschenrechte und Demokratie aufarbeitet.
Die Menschenrechtsstädte haben zwei bemerkenswerte Agenden eingeführt: Das Recht auf die Stadt als Ausgangspunkt und die Kultur der Menschenrechte als Weg, der zugleich auch Ziel ist. Beide Agenden sind genuin demokratisch. In Zeiten globaler demokratischer Erosion kommt Menschenrechtsstädten als Orte, an denen Demokratie konkret erfahrbar wird, eine besondere Rolle und Verantwortung zu. Sie sind Experimentalräume für innovative demokratische Praxis, ermöglichen es, neue Beteiligungsformate auszuprobieren, die Verwaltung transparenter zu gestalten und marginalisierte Gruppen aktiv einzubeziehen. Durch die kontinuierliche Beobachtung und Bewertung ihrer Maßnahmen können Städte lernen, welche Strategien die Teilhabe stärken und welche Barrieren noch bestehen, und so ihre demokratischen Strukturen fortlaufend verbessern. Menschenrechtsstädte haben eine Vorbildfunktion zur Stärkung von Demokratie auf nationaler und internationaler Ebene und senden ein Signal, dass demokratische Werte nicht nur abstrakt, sondern im Alltag umsetzbar sind.
Menschenrechtsstädte können diese Ziele in verschiedener Weise und mit unterschiedlichen Schwerpunkten erreichen, von sozialpolitischer Verankerung (Wien) über erinnerungspolitische Internationalität (Gwangju), durch partizipativ-digitale Innovation (Barcelona), bewusstseinsbildende und wissenschaftsbasierte Bildungsarbeit (York), institutionalisierte Überprüfung von Verantwortlichkeit (Graz) oder prioritäre Einbindung ausgegrenzter Gemeinschaften (Winnipeg). Gemeinsam ist allen Modellen, dass sie Demokratie greifbar machen, Räume für Partizipation eröffnen und gegen autoritäre Entwicklungen Schutz bieten. Menschenrechtsstädte sind damit Laboratorien, Schutzräume und Leuchttürme für Demokratie.
Gerd Oberleitner ist Ao. Universitätsprofessor und Leiter des Europäischen Trainings- und Forschungszentrums für Menschenrechte und Demokratie an der Universität Graz sowie UNESCO Chair in Human Rights and Human Security. Er war im österreichischen Außenministerium tätig und lehrte an internationalen Universitäten, darunter die London School of Economics. Zu seinen Publikationen zählen Human Rights in Armed Conflict (2015) und Research Handbook on International Law and Human Security (2022).
Klaus Starl ist Geschäftsführer des Europäischen Trainings- und Forschungszentrums für Menschenrechte (ETC) in Graz und Lehrbeauftragter für Menschenrechte an der Universität Graz. Der studierte Volkswirt war zuvor als Unternehmensberater tätig und Herausgeber der Zeitschrift Datagraph. Seit 2007 ist er Mitglied des Menschenrechtsbeirates der Stadt Graz und seit 2009 wissenschaftlicher Berater der UNESCO für die Europäische Städtekoalition gegen Rassismus.