Die Arbeiter:innenbewegung spielte eine zentrale Rolle in der Entwicklung der Demokratie. Sie kämpft(e) nicht nur für bessere Arbeitsbedingungen und soziale Rechte, sondern auch für politische Teilhabe und Gleichheit. Demokratie muss mehr sein als Wahlen und formale Verfahren – sie braucht soziale Gerechtigkeit, Mitbestimmung und reale Gestaltungsmöglichkeiten im Alltag. Angesichts neoliberaler Umbrüche und autoritärer Tendenzen brauchen wir eine Gesellschaft, die politische Bildung stärkt, Partizipation fördert und eine demokratische Kultur in alle Lebensbereiche trägt.
Ein oft übersehener, aber maßgeblicher Beitrag zur Entwicklung der Demokratie geht auf die Arbeiter:innenbewegung zurück. Sie war es, die im 19. und 20. Jahrhundert nicht nur soziale Rechte, sondern auch politische Teilhabe erkämpft hat – vom allgemeinen Wahlrecht über die Gründung von Gewerkschaften bis hin zu Mitbestimmung am Arbeitsplatz.[1] In vielen Ländern war es der Druck organisierter Arbeiter:innen, der parlamentarische Systeme überhaupt erst entstehen ließ. Die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit war immer untrennbar mit dem Ziel der politischen Gleichheit verbunden. Ohne die Kämpfe der Arbeiter:innenbewegung – für bessere Arbeitsbedingungen, soziale Absicherung und gleiche Rechte – wäre die Demokratie, wie wir sie heute kennen, nicht denkbar. Diese Geschichte sollte nicht vergessen werden, gerade wenn in heutigen Debatten Demokratie auf formale Prozeduren reduziert wird.
Wenn Demokratie den Anspruch erhebt, allgemeine Akzeptanz und Legitimität zu genießen, muss sie mehr leisten als nur formale politische Mitbestimmung im engen Sinne. Sie muss sich für Menschen auch materiell auszahlen. Wer wählt, muss spüren, dass seine bzw. ihre Stimme reale Auswirkungen hat – insbesondere im Bereich der Verteilungsgerechtigkeit. Wenn sich Politik jedoch aus Verteilungsfragen heraushält, verliert sie an Rückhalt und gerät unter Druck. Im Zuge einer neoliberalen Transformation des Wirtschafts- und Gesellschaftssystems seit den 1980er Jahren wurde der Spielraum der Politik - und damit des Demokratischen an sich – deutlich zurückgedrängt.
In einer zunehmend postdemokratischen Realität wird der politische Handlungsspielraum immer weiter beschnitten. Bereiche der Daseinsvorsorge verschwinden aus dem demokratisch beeinflussbaren Raum – etwa durch Privatisierungen oder Deregulierungen. Entscheidungen folgen einer "Standortlogik" oder werden als alternativlos dargestellt – wie etwa in der Eurokrise in Griechenland. Die Folge: Mehr Macht für Konzerne, weniger Mitbestimmung für Bürger:innen. Die Demokratie wird so zur bloßen Hülle. Wahlen verkommen zum Spektakel, während Lobbyismus und wirtschaftliche Interessen den Ton angeben. Der Begriff der „marktkonformen Demokratie“[2] zeigt diese Entwicklung schmerzhaft deutlich.
Im aktuellen Diskurs ist oft von der „liberalen Demokratie“ die Rede – diese bleibt jedoch oft auf den politischen Bereich beschränkt. Sie garantiert politische Rechte und Verfahren – jedoch häufig, ohne in andere Lebensbereiche vorzudringen. Eine Weiterentwicklung der Demokratie müsste jedoch auf umfassendere gesellschaftliche Beteiligung abzielen – etwa in den Bereichen Arbeit, Wirtschaft und Bildung. Für die Arbeiter:innenbewegung war immer klar: Demokratie darf nicht an den Werkstoren enden.[3] Eine soziale Demokratie muss das Prinzip der Mitbestimmung auch in der Arbeitswelt, in der Bildung und in wirtschaftlichen Entscheidungsprozessen verwirklichen. Nur dann entsteht soziale Freiheit – also die reale Möglichkeit, das eigene Leben selbstbestimmt zu gestalten.
Demokratie muss daher mehr sein als eine Regierungsform, bei der gewählte Vertreter:innen über das Wohl der Allgemeinheit entscheiden – noch dazu, wenn immer mehr Entscheidungen gar nicht mehr von der Politik getroffen werden (können), sondern „alternativlos“ zu befolgen sind. Ziel sollte vielmehr eine durchgehende demokratische Kultur sein, in der Partizipation zur Selbstverständlichkeit wird.
Autoritäre Entwicklungen sind nicht nur in Ländern wie Ungarn oder Polen zu beobachten. Auch in anderen europäischen Staaten werden Versammlungsrechte eingeschränkt, Medien zensiert und Proteste kriminalisiert. Der demokratische Raum schrumpft. Eine widerstandsfähige Demokratie muss auf Stärkung statt Einschränkung setzen. Sie braucht Politische Bildung, Medienkompetenz, Demokratieoffensiven im öffentlichen Raum und die Demokratisierung bestehender Institutionen. Technokratische Maßnahmen wie Zensur, Verbote oder Einschränkungen von Presse- und Versammlungsfreiheit sind der falsche Weg. Sie zeugen nicht von Stärke, sondern von Schwäche. Stattdessen muss das Ziel eine aufgeklärte, mündige Bürger:innenschaft sein – Menschen, die selbst Fakten prüfen und Argumente bewerten können. Dafür müssen die entsprechenden sozialen und institutionellen Rahmenbedingungen geschaffen werden.
Denn eine lebendige Demokratie entsteht dort, wo Menschen nicht nur alle paar Jahre wählen, sondern täglich mitgestalten können. Dies bedeutet, demokratische Alltagskulturen auszubauen – vor allem an jenen Orten, an denen Menschen viel Zeit verbringen.
[1] Siehe u.a. Fritz Keller/Sabine Lichtenberger: Die Geschichte der Mitbestimmung in Österreich, VÖGB, Wien 2025
[2] Der Begriff geht auf einer Aussage der ehemaligen deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel zurück, die am 01.09.2011 in einem Pressestatement festhielt: „Wir leben ja in einer Demokratie und sind auch froh darüber. Das ist eine parlamentarische Demokratie. Deshalb ist das Budgetrecht ein Kernrecht des Parlaments. Insofern werden wir Wege finden, die parlamentarische Mitbestimmung so zu gestalten, dass sie trotzdem auch marktkonform ist, also dass sich auf den Märkten die entsprechenden Signale ergeben.“, URL: https://www.faz.net/aktuell/politik/harte-bretter/marktkonforme-demokratie-oder-demokratiekonformer-markt-11712359.html (abgerufen 05.08.2025).
[3] Vgl. Böckler Impuls, Ausgabe 08/2019, Hans Blöckler Stiftung: Mitbestimmung in Europa, URL: https://www.boeckler.de/de/boeckler-impuls-demokratie-darf-nicht-am-werkstor-enden-4545.htm
Boris Ginner ist Referent in der Abteilung Lehrausbildung und Bildungspolitik der Arbeiterkammer Wien.
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