Ein Essay über Bevormundung, Besserwisserei und das Bedürfnis, einfach nur verstanden zu werden
Es gab eine Zeit, da stand die politische Linke für Arbeiterrechte, Mitbestimmung, Sozialstaat, faire Löhne und eine gewisse Bodenständigkeit. Der „kleine Mann“ (und mittlerweile auch die „kleine Frau“) fühlte sich bei der Linken gut aufgehoben. Es wurde gestritten, diskutiert, verhandelt – oft heftig, manchmal laut, aber immer mit dem Ziel, das Leben vieler Menschen ein Stück besser zu machen. Die Gewerkschaften waren stark, die Parteitage lang, die Parolen klar.
Heute hingegen scheint es, als habe sich das politische Koordinatensystem verschoben. Während rechte Parteien im Namen des „gesunden Menschenverstands“ von Wahlerfolg zu Wahlerfolg eilen, wirken viele linke Strömungen so, als hätten sie sich in einem akademischen Elfenbeinturm eingerichtet, von dem aus sie gelegentlich mit dem moralischen Megafon nach unten rufen: „Sprich gendergerecht! Fleisch ist Mord! Deine Wortwahl verletzt mich!“ – und bitte nicht vergessen, das Auto stehen zu lassen, es sei denn, es fährt mit Hafermilch.
Natürlich ist das überspitzt. Die Anliegen der Linken sind nach wie vor von großer gesellschaftlicher Relevanz: Klimaschutz, Gleichstellung, soziale Gerechtigkeit, Antirassismus – alles wichtig. Wirklich. Aber: In der Art, wie diese Anliegen kommuniziert werden, liegt der Hund begraben. Denn vielen Menschen erscheint die linke Politik mittlerweile nicht als Einladung zum Mitmachen, sondern als ein Regelkatalog mit Fußnoten und Verhaltensampel. Und wehe, man benutzt das falsche Wort.
Das führt zu einem Gefühl, das wir alle nur zu gut kennen: Minderwertigkeit. Niemand mag das. Das permanente Gefühl, nicht „richtig“ zu sprechen, zu leben, zu essen, zu denken – das nervt. Es ist wie ein intellektuelles Diätprogramm, das niemand bestellt hat: Du darfst alles machen, solange du es korrekt machst. Sprachlich korrekt, ökologisch korrekt, identitätspolitisch korrekt.
...kommen rechte Strömungen daher und machen genau das Gegenteil: Sie sagen, „Du bist gut, so wie du bist“. Auch wenn du dein Schnitzel mit Mayo isst, deinen SUV liebst und von Gendersternchen Pickel bekommst – du bist okay. Sie schaffen Nähe, das Gefühl von Gemeinschaft. Wir gegen die da oben. Die linke Moralpredigt wird hier ersetzt durch ein kollektives Schulterklopfen. Ja, es ist oft einfach gestrickt, häufig populistisch, manchmal gefährlich vereinfachend. Aber es ist wirksam. Weil es emotional ist. Weil es sich nicht nach Vorwurf, sondern nach Verbundenheit anfühlt.
Und das ist der entscheidende Punkt: Rechte Rhetorik vermittelt Zugehörigkeit, während linke Rhetorik (nicht immer, aber oft) Exklusivität erzeugt. Wer nicht mithalten kann im Diskurs um intersektionale Gerechtigkeit, dekonstruiertes Patriarchat und systemische Disparitäten, steht schnell außen vor. Wer Fragen stellt, riskiert moralische Schelte. Und wer aus seiner Lebensrealität heraus einfach nicht versteht, warum er oder sie sich plötzlich „cis-heteronormativ positionieren“ soll, der wählt dann vielleicht doch lieber jene, die nicht gleich mit einem Begriffslexikon wedeln.
Was die Linke früher stark gemacht hat – die Nähe zu den Lebensrealitäten der Menschen, der Fokus auf soziale Fragen, das konkrete Bemühen um bessere Bedingungen für viele – ist heute oft überlagert vom kulturellen Überbau. Man hat sich von der Sprache des Alltags entfernt und spricht nun bevorzugt im Soziologendeutsch. Und das nicht nur in den Parteizentralen, sondern auch auf Twitter (Verzeihung: X), in Talkshows und bei Podiumsdiskussionen. Während es früher um Löhne, Renten und Wohnraum ging, steht heute oft Sprache im Zentrum – und wer sich mit der neuen Grammatik nicht anfreunden will, hat schnell verloren.
Ein weiteres Problem: Viele linke Debatten entspringen urbanen Milieus, in denen bestimmte Themen eine hohe Relevanz haben – Klimaschutz, queere Sichtbarkeit, Diskriminierungssensibilität, vegane Ernährung, etc. Diese Themen sind ohne Frage wichtig, aber sie sind nicht die Realität aller Menschen. Für jemanden, der in einer strukturschwachen Region lebt, täglich pendeln muss und am Monatsende nicht weiß, wie er die Gasrechnung bezahlen soll, wirken Diskussionen um gendergerechte Kinderbuchfiguren schlicht: absurd. Wenn linke Politik an den Lebensrealitäten vieler Menschen vorbeigeht, dann wird sie als elitär wahrgenommen – und damit auch als bedrohlich.
Es wäre zu einfach, nur zu sagen: „Die Linke muss wieder bodenständiger werden.“ Aber genau das ist der Punkt. Die Linke müsste wieder attraktiv werden – nicht, weil sie die besseren Moralvorstellungen hat, sondern weil sie zuhört, versteht und verbindet. Nicht jeder Widerspruch ist gleich reaktionär, nicht jede abweichende Meinung ein Affront. Eine demokratische Gesellschaft lebt vom Streit – aber eben auch vom Zuhören.
Was helfen könnte:
Die Linke war dann am stärksten, wenn sie nicht über die Menschen gesprochen hat, sondern mit ihnen. Als sie in Betrieben, auf Demos, in Versammlungen präsent war. Als Solidarität nicht abstrakt, sondern konkret war. Als man miteinander diskutierte – und am Ende vielleicht nicht einer Meinung war, aber zumindest gemeinsam Pizza gegessen hat.
Heute hat man das Gefühl, man braucht ein Soziologiestudium, um bei der Linken mitreden zu dürfen – und genau das ist das Problem.
Linke Politik darf gern klug, differenziert und zukunftsorientiert sein. Aber sie muss auch nahbar sein. Die Menschen wollen nicht täglich lernen, was sie wieder falsch gemacht haben. Sie wollen verstanden werden – nicht belehrt.
Denn am Ende geht es in der Politik nicht nur um Inhalte, sondern immer auch um Haltung. Und wenn die Haltung von oben herab ist, suchen sich die Menschen jemanden, der mit ihnen auf Augenhöhe spricht – auch wenn dieser jemand die Welt viel einfacher darstellt, als sie ist.
Wer Veränderung will, muss Menschen gewinnen, nicht verprellen. Und vielleicht hilft es ja schon, mal einen Kaffee zu trinken mit denen, die anders denken – statt ihnen gleich das Koffein zu verbieten oder vorzurechnen, wieviel Liter Wasser für die Produktion eines Espressos aufgewendet werden mussten.
Gerhard Blaboll, Jurist, Autor, Moderator und Songwriter, schreibt historisch-philosophische Erzählungen und Romane mit Bezug zur aktuellen politischen Situation. Er ist Mitglied des Österreichischen PEN-Clubs, der IG Autorinnen Autoren und des Österreichischen Journalisten Clubs. Ab 2025 erhielt Blaboll eine Gastprofessur an der European University in Belgrad für Demokratieverständnis und Friedenspolitik.
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